Dieses Buch ist ursprünglich als eine kurze Biographie entstanden (so der Autor in der Vorbemerkung der deutschen Ausgabe). Das Original war für ein Publikum gedacht, dem Goethe vielleicht nur dem Namen nach bekannt war, und das eine Einführung in sein Leben und Werk suchte. (a.a.O.) Dem Namen nach bekannt müsste Goethe eigentlich allen Lesenden von englischer Belletristik aus Werken der englischen Romantik sein, wird er doch dort immer und immer wieder erwähnt. Für die deutsche Ausgabe wurde der Text um das Dreifache erweitert, weil der Autor nun vermehrt Die Erfindung der Moderne (so der Untertitel im Deutschen) ins Auge fasste – sprich, er versucht nun in diesem Buch aufzuzeigen, welche Themen, die schon Goethe beschäftigten, durch diesen Goethe zu einem Thema auch des 21. Jahrhunderts geworden sind.
Diese Entstehungsgeschichte weist bereits auf ein grundlegendes Problem der vor uns liegenden rund 650 Seiten hin: Es gehen hier nun zwei verschiedene Ordnungsprinzipien durcheinander und kommen sich gegenseitig in die Quere – das chronologische der eigentlichen Biografie und das thematische, das Adler nun darüber gelegt hat. Das vermittelt manchmal, und nicht immer zu Recht, den Eindruck, dass Goethe gewisse Themen erst in einem gewissen Alter entdeckt hätte, zum andern muss der Autor in vielen Fällen nun der Biografie vorgreifen (meistens) oder in ihr zurückgehen (manchmal). Es ist deshalb oft nicht ganz einfach, ihm zu folgen.
Hinzu kommt das Problem, dass der Autor die Tendenz hat, gewisse Entwicklungen (sei es der Goethe-Zeit oder von heute) ausschließlich auf das Subjekt seines Werks zurück zu führen. Als Beispiel sei hier die Entdeckung der Evolution bzw. die Entwicklung der Evolutionstheorie genannt. Goethes großes Verdienst in der Entdeckung der Metamorphose der Pflanzen sei ihm unbenommen, ebenso sein Verdienst um die Entdeckung des menschlichen Zwischenkieferknochens. Beide könnten wirklich wichtige Bausteine für die Evolutionstheorie Darwins gewesen sein – ich weiß es nicht. Und dass Darwin Goethe sehr verehrt hat und ihn fleißig las, will ich auch nicht bestreiten. Aber Adler blendet völlig aus, dass Evolution und Metamorphosen schon seit längerem in der naturwissenschaftlichen Gemeinschaft diskutiert wurden. Nicht umsonst hat den Zwischenkieferknochen auch ein Franzose unabhängig von Goethe gefunden; nicht umsonst hat Alfred Russel Wallace die Evolutionstheorie unabhängig von Darwin und auch ohne Goethe entdeckt. Last but not least finden wir schon in den naturwissenschaftlichen Werken von Charles Darwins Großvater Erasmus evolutionäre Gedanken präsentiert. Goethe war ein – nicht unmaßgeblicher, das sei zugegeben – Teil dieser Entwicklung hin zu Charles Darwin, aber er war nicht der Erfinder der Evolutionstheorie. (So wenig wie er, auch eine These Adlers, Proto-Feminist war.)
Wenn Adler in der Szene mit Philemon und Baucis (Faust II), dem Bau des Staudamms, oder in verschiedenen Szenen von Wilhelm Meisters Wanderjahren liberale Tendenzen im heutigen politischen Gebrauch des Worts zu erkennen glaubt, so ist er offenbar primär dadurch in die Irre geführt worden, dass Goethe tatsächlich das eine oder andere Mal von sich selber sagt, er sei liberal – aber das war in seinem Sprachgebrauch wohl eher der Ausdruck für das, was Wieland seinerseits jeweils eine kosmopolitische Einstellung genannt hat. Und wenn Adler Goethe tatsächlich mit der modernen Doktrin des Liberalismus in Verbindung bringt, dass freier Handel (sprich: Kapitalismus) auch politische Freiheit (sprich: Demokratie) bringe, so wirkt das in einem Buch, das 2022 erschienen ist, dem Jahr, in dem die westliche Welt mit Erstaunen feststellen musste, dass trotz freien Handels Länder wie Russland und China nach wie vor autokratisch regiert werden, nachgerade peinlich – abgesehen davon, dass Goethe so eine Idee wohl kaum unterstützt haben würde.
Ähnlich skeptisch wie Adlers Idee, dass Goethe als liberaler Politiker gedichtet hat, stehe ich dem Gedanken gegenüber, den er zum Schluss des Faust II äußert, nämlich, dass Goethe hier einen Seelenwanderungsglauben des Hinduismus poetisch darstellte. Der Gedanke, dass Goethes Begriff des Symbols bis hin zum französischen Symbolismus reichte, zu Baudelaire und Mallarmé, ist hingegen interessant, aber zu kurz ausgeführt.
Bei der Breite von Goethes Wissen und Wirken sollte es eigentlich nicht erstaunen, dass die eine oder andere Persönlichkeit der Zeit, die eine oder andere Idee auch, nur kurz dar- bzw. vorgestellt werden. Wenn allerdings ein nicht unwichtiger Autor der Goethe-Zeit wie Hamann von einem Autor einer Goethe-Biografie einfach knapp als Anti-Aufklärer etikettiert wird, so ist das doch befremdlich. Hamanns Position in der Geistesgeschichte seiner Zeit ist um einiges komplexer, und Adler hätte gut daran getan, gar kein Etikett an diesen Mann zu pappen. (Aber Philosophiegeschichte scheint ganz allgemein nicht Adlers Stärke zu sein. Er bezeichnet einmal Kant als den Mann, der die „unteren Sinne“ in die Erkenntnistheorie eingeführt habe – offenbar, ohne zu wissen, dass dies ein Konzept ist, das Kant aus der Ästhetik von Alexander Gottlieb Baumgarten genommen hatte.)
Definitiv befremdlich wird es auf S. 180, wo wir folgenden Satz finden: Insgesamt erschienen zwölf Nummern der Zeitschrift Die Horen von 1795 bis 1798.
1795 bis 1798 mag ja noch angehen, aber auch das ist im Grunde genommen schon unzulässig verkürzt. Eigentlich umfasste die Zeitschrift ja einfach drei Jahrgänge – 1795, 1796 und 1797. Allerdings verzögerte sich die Auslieferung des letzten Jahrgangs beträchtlich, so dass 1798 hingehen mag. Aber zwölf Nummern? Gibt es im Verlag C. H. Beck kein Lektorat, das eine Ahnung von der Geschichte der deutschen Literatur hat? (Abgesehen davon, dass so ein Fehler einem Autor einer 650-seitigen Goethe-Biografie gar nicht erst unterlaufen dürfte.)
Befremdlich wirkt auch der mehr als nur ‚gehobene‘ Ton, den Adler anschlägt, wenn es um Goethe geht. Als Beispiel sei aus dem letzten Kapitel die letzten Abschnitte genannt. Der Leichnam Goethes liegt aufgebahrt und wir kennen alle die Szene, wie sich Eckermann noch einmal in das Zimmer mit dem aufgebahrten Dichter schleicht. Adler führt das dann folgende Zitat aus den Gesprächen mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens wie folgt ein:
Eckermann hat uns eine bewegende Beschreibung von Goethes Leiche hinterlassen. Ein letztes Mal sollte Goethe den unerschrockenen Humanismus des Körpers erfahren, der zu den typischen Errungenschaften der Weimarer Klassik gehört: [es folgt das Eckermann-Zitat]. Noch posthum sollte Goethe als vollkommene Gestalt seine hohen Ideale in der Welt verbreiten.
Diesen schwülstigen Stil kennen wir in der deutschen Germanistik eigentlich schon seit 100 Jahren nicht mehr; und wenn Adler im Literaturverzeichnis schon die Biografie von Richard Friedländer aufführt, müsste er eigentlich auch dessen ironische Bemerkungen zu Eckermanns Überschwang kennen.
Wenn wir gerade vom Literaturverzeichnis reden: Es existiert, ist aber sehr kurz gehalten. Ebenso existiert ein Personen-Register, was aber fehlt (und bei über 530 Seiten reinem Text unabdingbar wäre), ist eine Auflistung, wo welches Werk (zumindest von Goethe aber eigentlich natürlich auch andere wichtige und des öfteren angezogene Werke wie zum Beispiel Kants Kritik der reinen Vernunft) erwähnt oder besprochen wird.
Um aber nicht alles schlecht zu machen: Adler als Engländer hat es einfacher als die deutsche Germanistik, Goethes Antisemitismus klar auszusprechen. (Ich erinnere an die (deutsche!) ‚Festschrift‘ zum 300. Geburtstag Immanuel Kants, in der auf ähnliche Weise wie bei Goethe um dessen strikte Ausgrenzung der Juden aus jedem europäischen Staat herumgeredet wird.)
Nun ist es bei einem Menschen, der über 80 Jahre lebte und sich mit den Naturwissenschaften ebenso intensiv beschäftigte wie mit den Schönen Künsten, fast unmöglich, alle Facetten seines Lebens abzubilden. Dass er dabei in die Vergangenheit ebenso zurückgreift, wie er in der Gegenwart wirkt und den einen oder anderen Samen für die Zukunft gesät hat, ist im Grunde genommen eine Banalität. Dieser Idee, dem ‚letzten Renaissance-Menschen‘ nachzugehen und dessen Spuren im 21. Jahrhundert zu suchen, finde ich im Grunde genommen faszinierend. Da aber weder Adler (noch ich) Renaissance-Menschen sind, wäre das wohl eher der Stoff für ein Symposium von Gelehrten verschiedener Fachrichtungen. Ein Mensch alleine kann an dieser Aufgabe nur scheitern.
Ergo: Als Steinbruch für die eine oder andere Idee, der man nachzugehen hätte, sicher brauchbar – als Biografie meines Erachtens nicht.
Jeremy Adler: Goethe. Die Erfindung der Moderne. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Auf der Grundlage der Übersetzung überarbeitete und erweiterte Fassung. München: C. H. Beck, 2022.