Annie Ernaux: Mémoire de fille [Erinnerung eines Mädchens]

Fotografie: Kopf einer jungen Frau mit blonden Haaren und Sonnenbrille (wahrscheinlich Annie Ernaux) vor einem Gebüsch. Ausschnitt aus Buchcover.

Mémoire de fille / Erinnerung eines Mädchens weist hier einen Doppelsinn auf. Zum einen sind es die Erinnerungen der beim Schreiben dieses Romans bereits über 70 Jahre alten Verfasserin an ihr zu Beginn noch nicht einmal 18-jähriges Ich, die wir hier finden. Zum anderen leuchten hier aber auch die Erinnerungen jener 18 bis 20 Jahre alten Frau an ihre erste Liebe auf. Das klingt kompliziert, ist es auch – und doch wieder nicht.

Zunächst natürlich taucht die Frage auf, ob es denn überhaupt für ein größeres Publikum interessant sein kann, die pubertären Nöte und Ängste einer jungen Frau nachzulesen. Ich erinnere mich selber voller Schrecken an entsprechende Coming-of-Age-Romane von Getrud Leutenegger, Zoë Jenny oder Nadj Abonji – Schuldzuweisungen ans Milieu, an die Mutter, Krämpfe und Kämpfe mit dem Vater. Nichts, das man nicht von seinen eigenen Kindern, aus seiner eigenen Jugend kennen würde.

Nun finden wir auch bei Annie Ernaux nichts, das man nicht von seinen eigenen Kindern, aus seiner eigenen Jugend, kennen würde. Aber sie schreibt ohne Schuldzuweisungen, und so gelingt ihr das Kunststück, aus Jungmädchen-Erinnerungen wirklich Literatur zu machen. Seit der Verleihung des Nobelpreises für Literatur in diesem Jahr (2022) kursiert im Netz immer wieder die Aussage, Ernaux sehe sich als „Ethnologin ihrer selbst“. (Wikipedia verweist als Quelle dieses Zitats auf Tobias Schwarz im Tagesspiegel von 2017.) Für einmal muss ich einem Literaturkritiker Recht geben. Tatsächlich ist es diese wissenschaftlich-akribische Herangehensweise an ihr Objekt (das gleichzeitig ihr Subjekt ist, was sie nie vergisst), die macht, dass Mémoire de fille nicht einfach ein weiterer Coming-of-Age-Roman ist, sondern mehr. Ihr gelingt es (wie bereits gesagt: ohne zu werten, nur beschreibend!) das kleinbürgerliche Milieu der französischen Provinz im Jahr 1958 darzustellen – so darzustellen allerdings, dass dieses französische Milieu der Zeit de Gaules und des anbrechenden Existenzialismus stellvertretend wirkt für jedes kleinbürgerliche Milieu jeden Landes und jeder Epoche.

Wenn wir die Geschichte, die Ernaux erzählt, chronologisch rekonstruieren, haben wir zunächst einmal ganz einfach eine junge Frau (eben: ein Mädchen), die – noch keine 18 Jahre alt – als Monitrice in ein Sommercamp kommt. Es ist das erste Mal, dass sie aus ihrer Kleinstadt wegkommt, das elterliche Haus für längere Zeit verlässt. Und sie hat nur einen Wunsch: Sie will ihre Jungfräulichkeit los werden. Wie ihr das gelingt, wie sie im Camp aufgenommen wird und wie die Erfüllung ihres Wunsches sie zunächst in ein überbordendes psychisches Hoch versetzt, sie eine überschäumende und wirklich pubertäre Liebe zu ihrem „ersten Mann“ entwickelt, wie diese enttäuscht wird und die junge Frau nun in ein tiefes Loch fällt, wie auch ihr Körper reagiert (ihre Regel bleibt aus und sie entwickelt eine Bulimie) – das alles schildert Ernaux mit einer klinischen, schon fast zynischen Beobachtungsgabe.

Doch das allein macht immer noch nur den halben Roman aus. Wir finden nämlich – neben den Existenzialisten Camus und Sartre (die für die junge Frau mehr ein Lebensgefühl darstellen als eine intellektuell erfasste Philosophie: sie verbindet mit dem Existenzialismus vor allem in Holzfällerhemd und Jeans in Bars herum zu hängen), neben den Symbolisten-Surrealisten Apollinaire und Éluard, neben den feministischen Denkerinnen Woolf und Beauvoir (die ihre feministische Haltung definieren sollte und auch die Einstellung der jungen Frau im gerade tobenden Freiheitskampf der Algerier ändern von pro-französisch zu pro-algerisch) – hinter diesem Roman der Erinnerung explizit und implizit immer wieder Marcel Proust.

Von Proust hat Ernaux ihren virtuosen Umgang mit Erzählzeit und erzählter Zeit erlernt. Sie geht darin sogar noch über Proust hinaus. Während dessen erzählendes Ich mal das junge ist, das gerade dieses und jenes erlebt, und mal das alte, das sich hintergründig, im schreibenden Rückblick, ein wenig über sein jüngeres Pendant lustig macht, fügt Ernaux jede Menge Reflexionen ein darüber, ob es überhaupt möglich ist, im Alter von 70 Jahren sich in sein jüngeres Pendant von 20 Jahren zu versetzen, ob sie nicht alle Erinnerungen und alle Erlebnisse der dazwischen liegenden 50 Jahre vergessen müsste, um wieder so zu fühlen und zu denken, wie es jenes junge Mädchen tat. Das hindert sie nicht daran, im Internet nach Personen und Orten ihrer Erinnerung zu suchen – und über ihre Suche zu schreiben. Selbst die Zeit des Erzählens, nämlich des Niederschreibens, spielt plötzlich in den Roman, wenn die Autorin – selber erstaunt – feststellt, dass die Zeit des Schreibens ungefähr genau so lange dauerte, wie die erzählte Zeit, nämlich rund zwei Jahre. Das liegt aber auch daran, dass sie das Buch lange ruhen ließ, weil sie dem Thema der jungen Frau nichts mehr abgewinnen konnte – und auch dies dann in den Roman einfließen lässt.

Für einmal ein Literaturnobelpreis, den ich für gerechtfertigt halte. Wenn dessen hauptsächliche Begründung (for the courage and clinical acuity with which she uncovers the roots, estrangements and collective restraints of personal memory / für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Fesseln der persönlichen Erinnerung aufdeckt) wirklich fürs gesamte bisherige Werk von Ernaux gilt, müsste man mehr lesen von ihr. Ich traue mich aber, ehrlich gesagt, nicht – die Lektüre jeden weiteren Buchs von ihr kann eigentlich nur in einer Enttäuschung enden.


Annie Ernaux: Mémoire de fille. Paris: Gallimard, 2016 (= Collection Folio 6448)

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