Vorliegender Text ist einer der so genannten „Fünf Klassiker“ des Konfuzianismus. Er wurde in China lange Zeit traditionell dem Meister persönlich zugeschrieben. Heute herrscht allgemein die Meinung, dass wir hier eine relativ späte Sammlung und Bearbeitung verschiedener Texte vor uns haben, die zwar alle aus dem Konfuzianismus stammen, aber zum Teil erst im 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung entstanden sind, also rund 300 Jahre nach dem Tod von Konfuzius. Dass es sich um eine Sammlung und Bearbeitung handelt, zeigt schon der Umstand, dass es nicht die eine Version des Li Gi gibt und dass die Redaktion der Schülersschüler zwar einige, aber nicht alle Wiederholungen zu tilgen wussten. Auch sind, gemäß Fachleuten, Texte aus verschiedenen Schulen des Konfuzianismus zu finden, in die sich diese Bewegung bald nach dem Tod des Meisters aufgespaltet hatte.
Nun ist der Konfuzianismus keine Religion, dementsprechend Konfuzius kein Religionsgründer. Auch als Philosophie im Sinne dessen, was ungefähr zur Zeit des Wirkens von Konfuzius im alten Griechenland mit den Vorsokratikern entstanden ist, kann er nicht bezeichnet werden. Wohl gibt der Konfuzianismus, gab schon Konfuzius, Ratschläge, wie am besten zu leben sei – doch eigentlich sind dies eher strikte Regeln, die eingebunden sind in die alte chinesische Gesellschaft. Eine Gesellschaft, wie sie schon zur Zeit des Konfuzius so nicht mehr existierte, weshalb wir denn auch in diesem Text viele Hinweise darauf finden, wie Konfuzius und seine Schüler versuchten, die Herrschenden (den Kaiser) sanft auf die alten Wege zurückzuführen. Dass dabei eine Glorifizierung der alten Zeiten zu einem goldenen Zeitalter unterläuft, ist wohl nur natürlich. (Und dass sie allesamt scheiterten, auch.)
Wer nun Li Gi im Internet sucht, ist gut damit beraten, auch nach der englischen Transkription Liji zu suchen, findet man doch auf Deutsch kaum etwas Substanzielles. (Jedenfalls ist es mir nicht gelungen.) Auch das ist nur natürlich, ist doch das Buch der Riten, Sitten und Bräuche genau das: eine Zusammenstellung alter, bereits zur Zeit des Konfuzius nicht mehr strikt observierten Riten, Sitten und Bräuche – vor allem im Umgang mit dem Kaiser und den Fürsten. Es sind sehr konservative Sitten, die das Buch propagiert: Die Pflichten des Fürsten gegenüber dem Kaiser, des Sohnes gegenüber dem Vater, des jüngeren Bruders gegenüber dem älteren, der Frau gegenüber ihrem Mann. Die Sache ist dabei allerdings keineswegs einseitig: Auch der Kaiser hat Pflichten gegenüber den Fürsten, die er einzuhalten hat, ebenso der Vater gegenüber dem Sohn, der ältere Bruder gegenüber dem jüngeren, der Mann gegenüber der Frau. Die Vorschriften des Li Gi beziehen sich auf Kindeserziehung ebenso wie auf Religion (der Konfuzianismus achtete die hergebrachten Götter des chinesischen Altertums), Ess-Sitten und Zubereitung der Nahrung ebenso wie Führung des Staates, ethisch-moralische Fragen sind eng verknüpft mit Anmerkungen zur alten chinesischen Musik etc. etc.
Das Buch ist also eher kulturgeschichtlich interessant als geistesgeschichtlich. Und obwohl seine Übersetzungen heute in Fachkreisen als veraltet gelten, gibt es davon offenbar bis heute im Deutschen nur die Übertragung von Richard Wilhelm, die 1930 zu ersten Mal erschienen ist. Sie wird immer mal wieder neu aufgelegt; die vor mir liegende Ausgabe stammt aus dem Eugen Diederichs Verlag, Diederichs Gelbe Reihe 31, erschien in dieser Form in der dritten Auflage 1997 und hat wohl sehr rasch den Weg auf den Remittendentisch gefunden; jedenfalls findet sich auf dem unteren Buchschnitt der Stempel „Mängelexemplar“. Auf dem Rücken prangt ein Kleber mit je einem Preis in Euro und einem in D-Mark. Das würde bedeuten, dass ich es irgendwann zwischen 1999 (Einführung des Euro als Buchgeld) und 2007 (Wegfall der Buchpreisbindung in der Schweiz, womit auch die Markierung von ausgeschiedenen Büchern als „Mängelexemplar“ überflüssig wurde) gekauft habe – wahrscheinlich tatsächlich noch im alten Jahrtausend, als ich noch der Meinung war, kulturgeschichtlich relevante Texte allesamt lesen zu müssen.
Tatsächlich aber ist das kein Buch, das man gelesen haben muss. Aber wer’s gern ein bisschen exotisch mag …