Jean Paul: Levana

ellbraune Fläche mit feinem Webmuster. Ausschnitt aus dem Leinen des Buchcovers.

Wer im Internet nach „Levana“ sucht, wird wahrscheinlich auf dieselben drei oder vier Suchresultate stoßen wie ich. Da ist zunächst eine der vielen minderen Gottheiten der alten Römer, Levana. Dann ein schlecht verkleideter Verein von Impfschwurblern, der sich anheischig macht, Elternstammtische dazu gründen zu helfen. Dann findet man eine Heilpflege- und Erziehungsanstalt in Baden bei Wien und zuletzt jede Menge Seiten, die Jean Pauls Buch mit diesem Titel verkaufen bzw. den Text zum Download anbieten. Bei einige dieser Seiten bin ich sicher, dass sie zwar das Buch gegenüber der Suchmaschine ausweisen; wenn man aber auf den Link klinkt, wird man erkennen, dass es nur ein Köder war, mit dem man Leute auf die eigene Seite bringen wollte – in der Hoffnung wohl, dass diese, da sie ja das eigentlich Gesuchte dort nicht finden, dafür auf der Seite nach anderem suchen und es kaufen. (Ich für meinen Teil führe eine Liste solcher Adressen, die ich schon gar nicht mehr anklicke.) Man findet also den Text, aber Besprechungen oder Vorstellungen von Jean Pauls Levana findet man kaum, obwohl ich vermute, dass in der Pädagogik und in der Germanistik einiges dazu geschrieben worden ist.

Dabei hängen alle diese Suchresultate untereinander zusammen. Die antike römische Göttin Levana war die Schutzgöttin der Neugeborenen. Der Name ist dabei wortwörtlich zu verstehen, denn im alten Rom wurde dem Gatten der Wöchnerin ein Neugeborenes vor seine Füße gelegt, wenn er nicht sicher war, ob das Kind wirklich von ihm war. Hob der Mann das Kind auf (lat. „levare“ = aufheben), erkannte er die Vaterschaft formell an. Daher wurde die Göttin Levana von den Müttern angefleht, damit ihr Ehemann das Ritual des „levare“ durchführe. So ähnlich beschreibt sie auch Jean Paul, der in Anlehnung an die Anerkennung eines Kindes im alten Rom seinem Buch den Titel Levana gab, ohne im Übrigen weiter auf diese alte Sitte einzugehen. (Während der Thomas De Quincey in einem seiner Prosagedichte sie sogar beschreibt.) Die Impfschwurbler und die Heilpflege- und Erziehungsanstalt schließlich beschäftigen sich beide auf ihre Weise auch mit dem, was sie für das Wohl des Kindes halten. (Von einer der Gründerinnen der Heilpflege- und Erziehungsanstalt weiß man, dass sie sich selber als große Bewunderin der Literatur Jean Pauls bezeichnete.)

Denn um die Kinder geht es in Jean Pauls Levana, seiner Erziehlehre, wie er das Buch im Untertitel mit einem seiner für ihn typischen Neologismen nannte. Es handelt sich bei diesem Buch nämlich nicht um einen Roman, wie Wikipedia fälschlich angibt, sondern um einen ernst gemeinten Text zur Kindeserziehung. Bewusst verzichtet Jean Paul denn darin auch größtenteils auf seine sonst üblichen Flachsen, seine mäandernde, in Beispielen und Explikationen ausufernde Schreibweise, seine mehr oder weniger an den Haaren herbeigezogenen Scherze. (Ganz kann er sich deren dann doch nicht enthalten.) Das Buch erschien zum ersten Mal 1806 (vordatiert auf 1807) und war sofort ein riesiger Erfolg. Der nachmalige Hamburger Oberaltensekretär Ferdinand Beneke zum Beispiel, zu der Zeit noch ein Verehrer Jean Pauls, las das Buch zusammen mit seiner Frau bei deren ersten Schwangerschaft, zur gegenseitigen Vorbereitung auf die Aufgaben, die da auf sie zukommen sollten. 1813 erschien eine erweiterte zweite Auflage der Levana; in dieser Gestalt habe ich den Text gelesen.

Jean Paul gründet seine Erziehlehre primär auf Jean-Jacques Rousseaus Émile, arbeitet aber auch Konzepte des Philantropinums von Basedow ein und von Pestalozzis Armenschule. Anders als Rousseau, der bekanntlich die eigenen Kinder ins Findelhaus gegeben hat, gründet Jean Pauls Pädagogik durchaus in den eigenen Erfahrungen mit den eigenen Kindern. Die meisten angeführten Beispiele sind welche aus seiner eigenen Familie, und Jean Paul legt auch ganz großen Wert auf den Umstand, dass „Erziehen“ immer etwas ist, das in zwei Richtungen stattfindet: Die Eltern erziehen ihre Kinder ebenso, wie diese ihrerseits ihre Eltern erziehen. Überhaupt plädiert er für ein Aufwachsen(-Lassen) der Kleinen in grösstmöglicher Freiheit. Sie sollen, wann immer möglich, (unter Aufsicht) draußen herumtollen können, und ihrer körperlichen Gesundheit wird mindestens so viel Gewicht beigelegt wie ihrer geistigen Entwicklung. Die wiederum soll nicht durch Drill und Auswendiglernen gefördert werden, sondern dadurch, dass die Eltern quasi mit den Kindern zusammen, und der jeweiligen Entwicklungsstufe der Kleinen angepasst, die Welt entdecken – ein durchaus modernes Konzept also.

Natürlich: Auch wenn er Fürsten anschreibt und auch ihnen pädagogische Ratschläge gibt, ist das Konzept im Großen und Ganzen für das besser gestellte Bürgertum maßgeschneidert, dem auch Jean Paul zu der Zeit angehörte. Hofmeister wären diesem Bürgertum möglich, aber Jean Paul rät davon ab (wohl auch, weil er aus seiner ihm verhassten Zeit, als er selber sein Leben als Hofmeister verdienen musste, genau wusste, welche Einstellung zum Job die meisten dieser armen Teufel mitbrachten). Natürlich wird schon früh in Jean Pauls Erziehlehre ein Unterschied gemacht zwischen der Erziehung von Knaben (die keinen Schmerz zeigen durften und mit Spielsachen spielten) und Mädchen (die auch mal weinen durften und mit Spielpuppen spielten – sprich: sich bis ins Erwachsenenalter nicht von der Vermenschlichung ihres Spielzeugs trennen konnten). Natürlich wird, wenn es um Konsequenz in der Erziehung geht, immer der Vater gefordert, weil die Frauen quasi von Natur aus nicht konsequent sein können. Alle diese Reste des 18. und 19. Jahrhunderts kleben auch an der an und für sich recht fortschrittlichen Lehre Jean Pauls. Wie sollte er auch so gänzlich aus seiner eigenen Zeit treten können? Das Ideal, auf das hin er erziehen möchte, ist das der Stoa, die das Leben zwar lebt, die auferlegte Pflicht erfüllt, aber dies immer im Bewusstsein, dass es morgen schon vorbei sein kann. Kein Wunder, rekurriert er immer wieder auf Montesquieu und dessen Staatstheorie. Aber wenn man dann wieder liest, dass man seine Kinder auch mit Märchen und mit Gleichnissen, mit Sprachspielereien und Scherzen erziehen darf und soll, verzeiht man im diese Eierschalen seiner eigenen Zeit.

Obwohl der Text als pädagogischer heute sicher als veraltet gelten muss, so ist es doch ein wenig schade darum. Er zeigt Jean Paul von einer anderen, ich bin versucht zu sagen: menschlicheren Seite als die oft scharfen Satiren und die allzu süßen Elegien seiner Romane.

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