Wilhelm Brauneder: Karl May [»Director’s Cut«]

Augenpartie aus einen Porträt Karl Mays. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

(Der im Titel von mir verwendete Begriff „Director’s Cut“ ist cum grano salis zu genießen. Zum einen, weil es sich hier ja nicht um einen Film, sondern um eine Rezension handelt, die ich auf Ersuchen der Redaktorin Jenny Florstedt für die Dezember-Nummer (4/22) der Zeitschrift Karl May & Co. schreiben durfte. Genauer gesagt – und das ist der zweite Grund, weshalb „Director’s Cut“ sachlich falsch ist – genauer gesagt also ist das hier eine alternative Version, die ich angesichts ihrer Länge relativ rasch verwerfen musste, weil ich Jennys entsetzte Ausrufe von Leipzig bis hierher hören konnte, als sie erfuhr, welchen Umfang das Ding angenommen hatte. Ich habe gar nicht lange versucht, an dieser Version herumzudoktern, sondern gleich von Grund auf eine neue, kürzere geschrieben. Da ich aber bei meinem ersten Anlauf das Gewicht zum Teil anders gelegt habe als in der veröffentlichten Version, erlaube ich mir, diese Alternativ-Version auch noch im Blog einzustellen.)


Eine Biografie erfüllt im Idealfall zwei Zwecke: Sie sollte einem breiteren Publikum die wichtigsten (und natürlich korrekte!) Informationen über die Biografierten zusammenstellen; die Fachleute hingegen sollten darin im Idealfall Neues zu den Biografierten und deren Werken erfahren. Vorliegende Biografie, um das vorweg zu nehmen, erfüllt die erste Aufgabe mit Ausnahme von zwei (allerdings bedeutenden!) Auslassungen soweit gut, an der zweiten versucht sie sich zwar, scheitert aber unserer Meinung nach.

Bevor wir zum Inhalt kommen, ein paar Worte zu Formalia. Jede Biografie (zumindest, wenn sie im 21. Jahrhundert verfasst wurde wie diese hier) unterzieht sich bei uns vor der Lektüre zuerst drei kurzen Kontrollen:

• Existiert ein Inhaltsverzeichnis? Check.
• Existiert ein Literaturverzeichnis? Check. (Und die üblichen Verdächtigen scheinen auch da drin vorzukommen.)
• Existiert ein Personen-, Orts- und Werksregister? Oh … ähm … tjă.

(Dafür haben wir im Anschluss an das Inhaltsverzeichnis noch ein Abbildungsverzeichnis, denn das Buch enthält auch ein paar Schwarz-Weiß-Fotografien. Deren Druckqualität ist in Ordnung; dem Kenner unbekannte sind aber keine dabei).

Wir haben das Buch dann zuerst einmal frustriert weggelegt, um dann doch mit der Einleitung zu beginnen. Und finden gleich als ersten S atz:

„Jeder kennt die Courths-Mahler und Karl May und weiß, daß sie die Lieblingsschriftsteller weiter Volkskreise unserer Tage sind“, so hieß es 1973.

[S. 9]

1973? Courths-Mahler? Die Anführungszeichen im Text von Brauneder weisen auf ein Zitat hin, und tatsächlich: Ein Blick auf die Anmerkung mit der Quellenangabe hilft. Da steht nämlich: H. Kunze (Hg.): Lieblingsbücher von dazumal (= dtv 947), 1973, 7. Eine rasch angeworfene Internetsuche zeigt: Dieses Buch gibt es tatsächlich (und es weist ein wunderhübsches Coverbild auf – noch von Piatti, Gott hab’ ihn selig). Ich besitze es selber nicht, aber Freunde im Internet haben mir die Seite 7 fotografiert und zugestellt. Mit dem oben zitierten Satz beginnt denn auch der Abschnitt Grundsätzliches dieses Buchs. Brauneder hat also so weit richtig zitiert, aber er hat nicht genug recherchiert: Schon ein rascher Blick auf unsere Suchergebnisse im Internet zeigte nämlich, dass das Buch a) sehr häufig und spottbillig in allerlei Buchantiquariaten angeboten wird und b) die dtv-Ausgabe nicht die einzige Ausgabe ist, die es gibt. Also rasch den Titel in der öffentlich zugänglichen Katalog-Suche der DNB eingegeben: Kunzes Buch (das H. steht übrigens für „Horst“) ist zum ersten Mal 1938 (im Heimeran-Verlag, Gott hab’ auch den selig) erschienen, und beim dtv-Büchlein handelt es sich um eine Im Text ungekürzte Ausg. (so auf der Seite der DNB: https://portal.dnb.de/opac/simpleSearch?query=Lieblingsbücher+von+dazumal). Für 1938 stimmt das mit der Courths-Mahler wohl eher als für 1973. Andererseits stimmt nun der wohl einzige Grund, weshalb Brauneder den Satz zitiert hat (nämlich, dass May noch so spät wie 1973 ein allseits beliebter Autor gewesen sei) natürlich nicht mehr.

Auf der folgenden Seite wird dann – und da bin ich völlig mit Brauneder einverstanden – die seltsame Manie moniert, die in der Karl May-Philologie eingerissen hat, seit sie von Arno Schmidt und (in seinem Gefolge) Hans Wollschläger in den 1960ern lanciert worden ist: Reale Vorbilder für Mays Figuren zu finden, am besten welche, bei denen angenommen werden kann, dass May mit seiner Präsentation in seinen Werken zumindest gedanklich hat Rache nehmen können an ihnen. Brauneder spricht von Spiegelungen. Mit der Kritik Brauneders an seinen „Kollegen“ auf S. 10 sind wir, wie gesagt, ja einverstanden. Allerdings verstehen wir nicht, warum er hier nicht auch schon auf jenen Bestandteil des bei ihm allegorisch-symbolhaft genannten Werkteil eingeht, jene Romane des Spätwerks, in denen May mit symbolischen Figuren auf fiktiven Schauplätzen in verschlüsselten Handlungen (S. 98) mit seinen realen Gegnern abrechnet. Implizit scheint Brauneder die Existenz solcher Spiegelungen im Spätwerk anzunehmen und zu akzeptieren. Warum hier und dort nicht? Weil May fürs Spätwerk selber solche Parallelen gezogen hat? Die ungerechtfertigten Spiegelungen also einem unbewusst schreibenden May zugesprochen werden müssen (aber nicht dürfen), die im Spätwerk jedoch bewusst beabsichtigten zu genehmigen sind? Der Autor hat unserer Meinung nach bei der Interpretation eines einmal veröffentlichten Werks keine größere Deutungshoheit als irgend Lesende.

Doch zurück zur Einleitung. Im ersten Satz haben wir also bereits mangelnde Recherche festgestellt – sollten wir weiterlesen? Wir haben es dann getan, und es stellte sich heraus, dass es ganz so schlimm nicht werden sollte. Was sich streckenweise häuft, sind Seltsamkeiten in der Satzbildung. Mit Pronomen bzw. ihren Bezügen steht der Autor allerdings speziell auf Kriegsfuß. Immer wieder stehen Sätze da, die man mehrere Male lesen muss, um die Bezüge (vielleicht) eruieren zu können:

Diese [gemeint ist die Zeitschrift „Die Gartenlaube“ – P. H.] verhalf Marlitt zum schriftstellerischen Durchbruch, hier erschien 1879 Heimburgs bekanntester Roman „Lumpenmüllers Lieschen“, hier schrieb sie 1888 den Roman „Das Eulenhaus“ nach deren Tod zu Ende.

[S. 23]

Wer ist im letzten Satzteil nun „sie“ und wer ist tot? (Spoiler: Eugenie Marlitt verstarb 1887.)

Sie [Karl Mays Haftstrafen – P. H.] lagen um 1900 bereits 35 Jahre (Osterstein), 25 Jahre (Waldheim) beziehungsweise 20 Jahre (Hohenstein-Ernstthal) zurück, doch erst von dieser Haft an gerechnet, war die Aufbewahrungsfrist der Prozeßakten von dreißig Jahren, und zwar wie May wohl annahm, noch nicht abgelaufen.

[S. 69]

Ich habe mich bei österreichischen Freunden erkundigt. Austriazismen sind das nicht (im Gegensatz wohl zur durchgehenden Verwendung von gewissen Wörtern wie zum Beispiel ident für „identisch“).

Alle diese und noch weitere Unsorgfältigkeiten lassen vermuten, dass beim Karolinger Verlag kaum Korrektorat noch Lektorat existieren.

Last but not least etwas, das einem Mann, der auf der Homepage der Wiener Karl-May-Runde als deren spiritus rector geführt wird und in deren Impressum gar für die Webseite verantwortlich zeichnet, ganz einfach nicht passieren darf: Da taucht doch auf Seite 129 oben eine prominente Romanfigur mit dem Namen Sam Hawkins auf. Das orthografische Schibboleth der Mayaner ist tatsächlich falsch geschrieben … Und das ist kein einzelner Tippfehler, sondern wird auf S. 152 so wiederholt. Old Shatterhand würde daraus schließen, dass der Autor seinen Text nur diktiert hat und nicht mehr selber Korrektur gelesen. (Denn ich gehe nicht davon aus, dass der gute Sam in Österreich einen anders geschriebenen Nachnamen führt.)

So viel zum Formalen – kommen wir nun zum eigentlichen Inhalt:

Das vorliegende Buch gliedert sich, grob gesagt, in zwei Teile – einen biografischen und einen mehr (literatur-)theoretischen.

Der biografische Teil besteht seinerseits wiederum aus zwei Teilen – unter dem Titel Mays Werdegang finden wir die eigentliche Biografie auf etwas über 40 Seiten, es folgt unter Mays Schaffensperioden eine Gliederung seines Werks nach vier Perioden. Der erste Teil bringt – mit zwei Ausnahmen – alle wichtigen Aspekte der May’schen Biografie, der zweite (unserer Ansicht nach der beste des ganzen Buchs) eine Kategorisierung des May’schen Werks, das sich durch seine Sachlichkeit und Unaufgeregtheit auszeichnet. Leider ist die Scheidung der beiden Teile nicht ganz durchzuhalten; vor allem im biografischen Teil müssen immer wieder Vorgriffe auf den literarischen gemacht werden.

Der literaturtheoretische Teil versucht, mit einer Analyse bzw. Differenzierung der Literatursorten „Reiseroman“, „Reiseerlebnis“ und „Reiseerzählung“ den autobiografischen Anteil, den die bekannten Romane Mays an seinem Leben gehabt haben sollen – das Stichwort ist hier die „Old Shatterhand-Legende“ – so klein wie möglich zu halten. Dem gleichen Ziel dient die folgende Analyse der verschiedenen Ich-Figuren, die Brauneder in Mays Roman vorzufinden glaubt. Nun spricht in diesem theoretischen Teil leider nicht der uninteressierte Wissenschaftler: Brauneder ist Partei, und die ganze theoretische Auseinandersetzung mit Mays Werk dient letztlich dazu, Karl May vom Vorwurf zu entlasten, er hätte die Behauptung, er, Karl May, geboren am 25. Februar 1842 in Ernstthal, sei mit seinem Helden Old Shatterhand im physischen Sinn identisch, – diese Behauptung hätte May also ernstlich vorgebracht. Es wird Karl May bei Brauneder zum (virtuellen) Angeklagten, und was wir hier vor uns haben, ist in eigentlich das Schlussplädoyer des Verteidigers vor Gericht. Brauneder geht dabei sehr geschickt vor. Er gibt einige kleinere Verfehlungen seines Mandanten zu, versucht aber, wo er kann, den Ball flach zu halten, und Mays Anteil an der Legendenbildung als so klein wie möglich darzustellen. So soll die Behauptung „Ich bin mit Old Shatterhand identisch“ die Form von Identifizierung sein, die jeder Schriftsteller mit seinen Figuren haben müsse. (Sein Kronzeuge für diese Behauptung ist Stefan Zweig – Zweigs Qualität als Schriftsteller und Literaturtheoretiker ist eine andere Diskussion.) Die berühmten Fotografien, die May zeigen, wie er in der guten Stube am Boden um eine Zimmerpflanze herumkriecht, seien reine Werbemittel gewesen, nie ein Zeichen dafür, dass er die Identifizierung May = Shatterhand voran treiben wolle. Brauneder verweist hier u.a. darauf, dass es solche Werbefotos auch von Gerstäcker gegeben habe. Das stimmt, beweist aber unserer Meinung nach genau das Gegenteil von dem, was es nach Brauneder beweisen soll. Denn Gerstäcker im Trapperanzug ist eben genau der Hinweis darauf, dass, was er, Gerstäcker, (zum Beispiel in Streif- und Jagdzüge durch die vereinigten Staaten Nord-Amerikas) schildert, von ihm, Gerstäcker, auch wirklich erlebt wurde. Wenn sich nun also May im Trapperanzug ablichten lässt …

Um den Ball flach zu halten und den Charakter Mays möglichst im Rahmen des Normal-Üblichen darstellen zu können, greift Brauneder zu einem kleinen Trick in der Biografie. Er lässt ähnliche „Anfälle von Größenwahn“ (wie wir es als Jugendliche salopp formuliert hätten) unerwähnt bzw. hält sie klein. Die Geschichte mit dem Doktor-Titel wird zwar erwähnt, aber so ridikülisierend eingeführt, dass die Lesenden sie im Folgenden fast nicht ernst nehmen können. Dabei war May besessen davon – so sehr besessen, dass er 4.000 österreichische Kronen (das sind nach heutiger Kaufkraft ungefähr € 15.000) ausgab, um sich ein Doktor-Diplom einer wertlosen Diplommühle zu besorgen. Mays Behauptung zum Spätwerk, sein alter Ego Shatterhand sei nicht sein physisches alter Ego, sondern es handle sich bei ihm um die – Menschheitsfrage schlechthin, sind im Grunde genommen nur noch weitere, noch phantastischere Größenphantasien, wie wir sie allenfalls noch vom kranken Nietzsche kennen.

Brauneder verschweigt diesen Charakterzug Mays gänzlich. Damit erreicht er zwar (vermeintlich) sein Ziel, May vom Vorwurf der Selbstidentifizierung mit Old Shatterhand zu entlasten. Aber gleichzeitig schüttet er alle Abgründe im Wesen Mays zu, die überhaupt erst machen, dass er zu diesem literarischen Phänomen werden konnte, das er war (und bis heute ist). Wir haben hier einen Karl May für ein Damen-Magazin des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Manche werden das mögen. Ich nicht.


Wilhelm Brauneder: Karl May. Dichter – Themen – Umfeld. Wien: Karolinger Verlag, 2022. [Verlag wie Autor sind dafür bekannt, politisch eher am rechten Rand angesiedelt zu sein, was ich zum Zeitpunkt meiner Zusage noch nicht wusste, weil ich mich, ehrlich gesagt, weder um den Namen des Autors noch des Verlags gekümmert habe, als Jennys Anfrage eintrudelte. In diesem Buch ist von rechter, revisionistischer Politik zum Glück wenig bis nichts zu finden.]

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