Il Milione stellt so etwas dar wie den Ahnherrn aller (europäischen) Reiseberichte. Der venezianische Kaufmann Marco Polo berichtet darin sogar über gleich zwei Reisen. Zuerst, ganz kurz, über die seines Vaters Nicolaos und dessen Bruder Maffeo nach Zentralasien, wo sie den Großkhan trafen, sodann von der späteren Reise, die die beiden kurze Zeit später mit dem Sohn des Nicolaos, eben unserem Marco, unternahmen. Der Junge war zu Beginn der Reise gerade mal 17 Jahre alt; die Reise sollte 24 Jahre in Anspruch nehmen und führte – weiter südlich als die erste Reise der beiden Brüder – durch Zentralasien an Tibet vorbei nach China. Den Rückweg nahmen die Drei über das Meer (Java – Sumatra – Ceylon) an die afrikanische Ostküste (Sansibar – Aden) zurück nach Venedig.
Nun war Marco Polo wohl nicht der erste und (wie man gerade gesehen hat) auch nicht der einzige, der eine solche Reise unternahm. Die Drei folgten den klassischen Handelswegen jener Zeit: Den Weg nach China nahmen sie auf der so genannten ‚Seidenstraße‘, den Heimweg über den ebenfalls alten Seeweg, über den die chinesischen Kaufleute seit Jahrhunderten Waren nach Afrika brachten. Es war auch nicht Abenteuerlust, die die drei Kaufleute zu ihrer Reise veranlasst hatte, sondern kaufmännisches Kalkül, und es ist anzunehmen, dass schon andere vor ihnen ähnliche Kalkulationen aufgestellt hatten und sie ebenfalls auf die Probe stellen wollten. Denn es war den venezianischen Kaufleuten natürlich bekannt, dass sich die aus China stammende Ware auf der Seidenstraße erheblich verteuerte, weil es üblicherweise nicht ein und derselbe Händler war, der die Ware in China kaufte und in Venedig wieder verkaufte. Es gab auf der Seidenstraße jede Menge Umschlagplätze, die für viele Händler die Endstation bildeten. Sie kauften die Ware in B und transportierten sie nach C, wo sie sie wieder verkauften – natürlich wenn immer möglich mit Gewinn. In C waren es wahrscheinlich andere Händler die die Ware kauften, um sie nach D zu bringen und dort mit Gewinn weiter zu verkaufen, usw., usw. … Unterdessen kauften die ersten Händler in C Ware, die sie nach B zurückbrachten und dort (mit Gewinn!) verkauften – vielleicht an Händler, der ihrerseits die Ware von B noch weiter Richtung China nach A bringen würden.
Das primäre Interesse der drei Polo war wohl, herauszufinden, ob es möglich wäre, diese Zwischenhändler auszuschalten. Die lange Reisezeit wird sie wohl vom Gegenteil überzeugt haben; jedenfalls ist nicht bekannt, dass sich von 1295 an (dem Jahr der Rückkehr) regelmäßig venezianische Händler persönlich nach China begaben, um dort einzukaufen.
Dass wir diesen Reisebericht überhaupt vor uns haben, ist nun wiederum die ‚Schuld‘ der Genueser. In einem der Kriege zwischen den Stadtstaaten Genua und Venedig geriet Marco Polo 1298 in genuesische Gefangenschaft. Dort traf er auf den Literaten Rustichello da Pisa, dem er offenbar ein bisschen aus seinem Leben erzählte. Ich vermute, dass es Rustichello war, der die literarischen Möglichkeiten dieser Erzählungen erkannte. Ob er den Text von Polo diktiert erhielt oder sich nach den Gesprächen mit ihm jeweils Notizen machte, können wir nicht wissen. Das Original-Manuskript existiert nicht mehr. Im Allgemeinen geht die Forschung davon aus, dass Rustichello mit seiner an der Antike geschulten literarischen Kunstfertigkeit solche Dinge ergänzte oder ausmalte wie die häufig beschriebenen Schlachten zwischen orientalischen Herrschern. Von Polo würden dann die sachlichen (und sachdienlichen) Informationen stammen wie Wegbeschreibungen (Länge einer Etappe, Reiserichtung und Hinweise auf zu beachtende Hindernisse wie Wüsten, Räuber oder gar Menschenfresser), kulturelle Informationen wie die jeweils vorherrschende Religion, das Essen oder die Getränke (wo wird Wein, wo Bier produziert, wo ist das Wasser ungenießbar und sollte man einen Vorrat mitbringen?), oder allgemeine ökonomische Gegebenheiten – so schildert er zum Beispiel das chinesische Papiergeld und seine Verwendung ausführlich.
Einige der Informationen (zum Beispiel die über Magie und Medizin, bzw. magische Heilverfahren) sind unglaubwürdig, andere (wie zum Beispiel ein Hinweis auf die Chinesische Mauer) fehlen, weshalb man schon früh begonnen hat, Polo vorzuwerfen, er habe die ganze Reise erfunden und mit Material aus Erzählungen Dritter gefüllt. Allerdings spricht für eine tatsächliche Reise, dass man sowohl die Hinreise ziemlich genau rekonstruieren kann (und sich dort, wo Marco Polo Städte positioniert, sich auch tatsächlich welche befinden bzw. befanden), wie auch auch Reiseroute und -dauer der Rückfahrt zur See mit den meteorologischen Gegebenheiten (Monsun und andere widrige Winde) übereinstimmen, die wir aus anderen Aufzeichnungen jener Zeit kennen (chinesische Schiffe konnten nicht oder nur schlecht gegen den Wind kreuzen). Dass wir in chinesischen Aufzeichnungen aus der Zeit keinen Hinweis auf Marco Polo finden, will nichts sagen. Wir wissen nicht, welchen chinesischen (bzw. mongolischen – ich komme noch darauf) Namen er trug. Wenn er behauptet, über längere Zeit eine bestimmte chinesische Provinz als Gouverneur verwaltet zu haben, und wir in den Akten jener Provinz nicht nur seinen Namen nicht finden, und nicht einmal einen Hinweis darauf, dass ein Fremder die Provinz verwaltet habe, so kann darin auch einfach in Kommunikationsproblem zwischen Polo und Rustichello stecken, indem dieser eine aus Freundschaft erfolgte Assistenten-Funktion Polos für seine Bericht ein wenig aufgehübscht hat. Dass Polo schließlich kein Wort über die Chinesische Mauer verliert, spricht auch nicht unbedingt gegen eine Anwesenheit Polos in China. Zum einen war die Mauer gegen Ende des 13. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung noch lange nicht der riesige Prachtbau, wie wir ihn heute kennen und mit dem Namen verbinden, sondern allenfalls ein besserer Erdwall.
Zum andern – und nun muss ich zurückkommen auf den oben erwähnten Großkhan. Die Rede ist vom Anführer der Tartaren (i.e. Mongolen) Kublai Khan, dem Enkel des Dschingis Khan – dessen Geschichte nebenbei zu erzählen sich Polo (oder doch Rustichello?) nicht verkneifen kann. Ungefähr zum Zeitpunkt, als die drei Venezianer ihre Heimat verließen, hatte sich Kublai Khan die Herrschaft über China gesichert und als Kaiser von China die so genannte Yuan-Dynastie begründet. Es war für Ostasien eine Zeit relativen Friedens, was die Gegend für unsere Kaufleute natürlich erst recht interessant machte. Dass sich Kublai Khan zur Festigung seiner Herrschaft Unterstützung holte, wo er sie fand, und dass er venezianische Kaufleute durchaus als solche einstufen konnte, scheint mir evident. Dass den Kaufleuten umgekehrt eine ‚Freundschaft‘ mit dem chinesischen Kaiser nur nützen konnte, ebenfalls. Dass die Mongolen – und jetzt komme ich wieder auf die Chinesische Mauer – als Reitervolk im Krieg auch in der Defensive eine dynamische Taktik verfolgten, wird von Marco Polo sogar selber erzählt. Die statische Taktik der Chinesen mit ihrer Mauer ist den Mongolen vielleicht gar nicht recht zu Bewusstsein gekommen – immerhin hat sich diese Mauer ihnen gegenüber als völlig nutzlos erwiesen. Kein Grund, sie vorzuzeigen oder auf sie stolz zu sein.
Alles in allem also ist Il Milione ein bis heute kulturgeschichtlich sehr interessantes Dokument, dessen Lektüre nur zu empfehlen ist.
Marco Polo: Il Milione. Die Wunder dieser Welt. Übersetzung als altfranzösischen und lateinischen Quellen und Nachwort von Elise Guignard. Mit 14 Farbtafeln. Zürich: Manesse, 1997. [Aus der Manesse Bibliothek der Weltliteratur, entstanden noch zu einer Zeit, als diese wirklich Weltliteratur beinhaltete und auch in seiner Gestaltung (Leineneinband, Lesebändchen, Dünndruckpapier, Farbillustrationen) etwas hergab.]