Otto Weininger: Geschlecht und Charakter

Schrift "VON // OTTO WEININGER" schwarz auf beige. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

An dieses Buch erinnert hat mich jener Unterhaltungskünstler, der im deutschen Fernsehen in verschiedenen Sendegefäßen einen Literaturkritiker spielt. In dieser Rolle klemmt er auch schon mal ein Buch in eine Astgabel, lässt sich das Gesicht schwarz anmalen oder kann – im ehemaligen Wohnhaus von Arno Schmidt, vor dem Schreibtisch des Autors und dessen Zettelkasten stehend – Susanne Fischer, geschäftsführende Vorständin der Arno Schmidt Stiftung, naiv fragen, welcher von den vielen denn nun der aller-allererste Zettel für ZETTEL’S TRAUM gewesen sei. Auch Interviews mit Autor:innen führt er, und kriecht dabei zum Beispiel Kim de l’Horizon (Blutbuch) derart ins Hinterteil, dass Kim darob vor lauter Freude und Vergnügen über alle Backen strahlt.

Last but not least stellt er von Zeit zu Zeit die schlechtesten Bücher der Literatur vor – Bücher, die die Welt nicht gebraucht hätte, sozusagen. Neulich (und über diese Sendung bin ich zufällig gestolpert) war Otto Weiningers Geschlecht und Charakter an der Reihe, Zitat: Mehr Antisemitismus und Misogynie zwischen zwei Buchdeckeln lässt sich schwerlich finden!, wobei er dann von einer Lektüre abrät.

Nun kann ich einerseits seinem Urteil in dieser allgemeinen Formulierung nicht zustimmen. Selbst in der Kombination ist es nicht unwahrscheinlich, dass – vor allem um die Wende von 19. zum 20. Jahrhundert – andere, noch weiter gehende Bücher zu diesen Themen erschienen sind. (Im Anhang meiner Ausgabe macht der Verlag Reklame für: Weib und Liebe. Studie über das Liebesleben des Weibes von einem gewissen Medizinalrat Dr. Bernhard A. Bauer, dessen Stark gekürzte Inhaltsübersicht Schlimmstes verheißt, und für: Die Frauenemanzipation und ihre erotischen Grundlagen von Dr. E. F. W. Eberhard, dessen Inhaltsübersicht – eine ebenfalls stark gekürzte – nichts Besseres verspricht.) Andererseits hängt viel auch vom Erkenntnisinteresse (wie Habermas es zu formulieren pflegte) ab.

Wer Bücher liest, um aus der Realität flüchten zu können („abtauchen“ wird das gern genannt), ist natürlich schon deswegen mit diesem Buch schlecht bedient, weil es keine Belletristik ist. Und wer liest, um aus einem Buch Ratschläge oder ähnliches für seine / ihre aktuelle Lebenssituation zu entnehmen, ist bei Weininger auch an der falschen Adresse. Dennoch sollte man dieses Buch nicht einfach beiseite legen. Nachdem es zunächst in den Regalen der Buchläden vor sich hin dümpelte, hat der wenige Monate nach der Veröffentlichung erfolgte Selbstmord Weiningers den Verkauf in ungeahnte Höhen getrieben. Das Buch kann wohl ohne Übertreibung als eines der einflussreichsten der damaligen Zeit bezeichnet werden. Weininger wurde unter anderem zum Exempel dessen, was man vor 1933 als „jüdischen Selbsthass“ bezeichnete; Karl Kraus (der selber an so etwas laborierte) war begeistert, ebenso (der wie Weininger homosexuelle und daran leidende, aus jüdischer Familie stammende) Wittgenstein. Freuds und Breuers Thesen waren zu jener Zeit nicht sehr verschieden von denen Weiningers; es wurden gar Plagiatsvorwürfe laut. Vor allem in Österreich war das Echo groß (neben den oben bereits Genannten wären noch Kokoschka aufzuführen, Canetti, Musil oder Trakl – die alle das Buch lasen und lobten), aber auch Strindberg, selber Frauenverächter, gehört in die Liste der ‚Fans‘. Ob man den „jüdischen Selbsthass“ so einfach als ‚Antisemitismus‘ bezeichnen kann, wage ich, nebenbei gesagt, zu bezweifeln.

Aber Weiningers Einfluss hält bis heute an – auch und vor allem bei Leuten, die ihn gar nicht (mehr) kennen. Da ist die Theorie, dass jeder Mensch konstitutionell männliche wie weibliche Bestandteile aufweist, und zwar so, dass der ganze Mensch zum Beispiel 70% M ist und 30% W, diese Aufteilung sich aber nicht unbedingt in den äußeren Geschlechtsorganen spiegelt, auf Grund derer der Mensch bei der Geburt als Knabe oder als Mädchen definiert wird. Weininger spricht von Bisexualität (nur meint das heute etwas anderes), im Grunde genommen beschreibt er aber zumindest die landläufige Auffassung der Transsexualität. Ich weiß nicht, ob Transsexualität heute andere wissenschaftliche Grundlagen kennt. Weininger schließt aus seiner These vor allem, dass bei der Partnerwahl ein Mensch mit 70% M und 30% W instinktiv auf der Suche ist nach einer Ergänzung mit 30% M und 70% W. Noch in einem Sachbuch aus der Bibliothek meines Vaters, das sich mit dem Menschen in anthropologischer und biologischer Hinsicht beschäftigte, und das irgendwann in den frühen 1960ern erschienen sein muss, wurde diese These Weiningers unkommentiert und als wissenschaftlicher Konsens dargestellt. Als Korrelat gilt für Weininger dann, dass männliche Homosexuelle ‚intern‘ einen Überschuss an W haben und weibliche umgekehrt. Ebenfalls ein Korrelat ist für ihn, dass auch bei homosexuellen Paaren (egal, ob Männer oder Frauen) immer eine Person die männliche und eine die weibliche Rolle inne habe, wobei er dann ‚Rolle‘ wiederum nur ungenügend definiert. Aber den Gedanken als solchen habe ich noch in den frühern 2020ern in einem Pausengespräch unter Kolleg:innen gehört; er existiert also bis heute in dieser Form. Dass die verschiedenen Thesen miteinander nicht in Übereinstimmung gebracht werden können, hat offenbar weder Weininger noch die meisten seiner Leser gestört.

Denn natürlich hat der oben erwähnte Unterhaltungskünstler Recht, wenn er sagt, dass das ganze Werk es an wissenschaftlicher und nun gar an logischer Konsequenz fehlen lässt. Weininger erlaubt sich Zirkelschlüsse, beweist eine These, indem er eine andere aufstellt (die er dann der Einfachheit halber gar nicht beweist) oder indem er als Beweis ein Zitat aus einem Schriftsteller bringt (seine bevorzugten Quellen sind hierbei Ibsen und Wagner). Er verwechselt zufällige, historisch bedingte Phänomene mit anthropologischen bzw. biologischen Konstanten und rechnet so langes Haar bei Frauen (bzw. kurze Haare bei Männern) zu den tertiären Geschlechtsmerkmalen (ja, er kennt neben primären und sekundären auch tertiäre und quartäre Geschlechtsmerkmale – sowie, den primären noch vorgeordnet – primordiale). Und kann dann die Chinesen als eine weibliche Rasse bezeichnen, weil dort die Männer lange Haare haben, sogar zu Zöpfen geflochten. (Denn neben antisemitischen sind bei Weininger auch rassistische Züge in Menge vorhanden.) Ein anderes seltsam anmutendes Beispiel ist, wenn Weininger alle Frauen – und hier müssen wir zwischendurch gleich noch eine weitere Inkonsequenz bei ihm festhalten: obwohl er zunächst behauptet, M und W seien zu betrachten wie die Ideen Platons, fällt er dann doch in eine klassische misogyne Haltung zurück, und schreibt, was er eigentlich W zugeschrieben hat, also der Idee des Weibes, den Frauen zu, die er in Fleisch und Blut auf der Straße sieht – alle Frauen also sind für Weininger entweder Kupplerinnen oder Prostituierte, je nachdem, ob sie bürgerlich oder unbürgerlich leben. Jede Frau will zunächst sich selber, später ihre Töchter und dann auch fremde junge Frauen in die Ehe verkuppeln – was ihnen Weininger natürlich empört als (geistige) Schwäche vorhält. Aber auch hier war die gesellschaftliche Entwicklung, zum Beispiel das Erbrecht im England des 18. und 19. Jahrhunderts, von der Art, dass Frauen des Mittelstandes keine Möglichkeit hatten, anders ein gesichertes Leben zu führen als durch eine Heirat mit einem möglichst vermögenden Mann (denn Jobs für Frauen jenseits einer Stellung als Dienstmädchen oder Köchin wurden erst geschaffen, als der Erste Weltkrieg und seine Folgen – der völlige Mangel an arbeitsfähigen Männern – danach verlangten). Natürlich war es im Interesse jeder Frau, sich und dann ihre Töchter zu verheiraten. Denn erben konnten nur die ältesten Söhne; aber während die anderen Söhne durchaus Arbeit finden konnten, blieb Arbeiten, eigenes Geld Verdienen, den Frauen der bürgerlichen Schicht damals verwehrt.

Zu Beginn, wenn es darum geht, die jeweiligen Bestandteile an M und W im Menschen zu definieren, greift er auch zu mathematischen Formeln. Oder zu etwas, das er dafür hält – seine Formeln sind leere Hülsen. Weiningers mathematische Fähigkeiten lassen sich vielleicht am besten an Hand folgender Passage aus dem Anhang der Zusätze und Nachweise aufzeigen, wo er zu Teil II, Kapitel 9 Folgendes über die Kriminalität der Frauen sagt (der genaue Zusammenhang soll hier nicht interessieren):

Greifen wir nun drei beliebige Zahlen heraus; wenn man will, 1889, 1890, 1891. Während dieser Zeit sind 2970 Männer wegen schwerer Verbrechen (Mord, Kindesmord, Verbrechen gegen die Sittlichkeit) vor Gericht gestellt worden, während man 745 Frauen in dem nämlichen Zeitraum derselben Verbrechen anklagte. Die Kriminalität des Weibes wird also durch eine Zahl ausgedrückt, die ein Viertel der männlichen beträgt, oder mit anderen Worten, es werden von vier Verbrechen drei von Männern begangen und eines von Frauen.

Und nun weiß ich auch nicht …

Mit Ausnahme der letzten drei Kapitel (die auch inhaltlich am abstrusesten sind und in denen seine Thesen die seltsamsten Blüten treiben), ist das Buch mehr oder weniger mit einer Dissertation identisch, die Weininger im Jahr 1902 bei Friedrich Jodl und Laurenz Müllner an der Universität Wien eingereicht hatte und die auch angenommen wurde. Wie der Empirist und Positivist Jodl und der liberale Katholik Müllner dieses von logischen Fehlern nur so strotzende Werk überhaupt annehmen konnten, entzieht sich meinem Verstand. Natürlich finden wir Stellen in diesem Buch, in denen sich Weininger auf Kant bezieht und vor allem auf Platons Ideenlehre, die er für seine Zwecke pervertiert. Natürlich gibt es Momente, in denen er sich schon fast wie ein Neukantianer aus der Marburger Schule aufführt, sich positiv auf Dilthey bezieht, auf Avenarius, Mach, Wundt, Windelband, Cohen, Natorp oder Husserl. Und wenn man sich sonst so anschaut, wen er zitiert, finden wir auch viele und vieles (Wagner beiseite gelassen), das der US-amerikanische Transzendentalismus, das Emerson auch verwendet haben – allen voran die deutschen Romantiker. Aber was er aus seinen Quellen extrahiert, spottet jeder Beschreibung.

Auf Nazi-Deutschland hatte das Buch – trotz dessen, was unser Unterhaltungskünstler als seinen Antisemitismus bezeichnet – kaum Einfluss, was auch der Unterhaltungskünstler ihm attestiert. Die Werke des Juden Weininger waren dort verboten.

Trotz seiner Schwächen – gerade wegen dieser! – sollte man das Buch nicht einfach ungelesen weglegen, wie es uns der oben genannte Unterhaltungskünstler suggeriert. Es ist ein großartiges Beispiel dafür, wie Theorien, die man heute als ‚Schwurbel‘ bezeichnen würde, unter Umständen sogar mit den Label ‚wissenschaftlich approbiert‘ ausgezeichnet werden und riesigen Anhang finden. Ja, wie solche Theorien über Jahrzehnte im Verborgenen weiter blühen und in alltäglichem Rassismus bzw. alltäglicher Homophobie ihr Köpfchen immer noch hochrecken. („Sogar Juden und Schwule sind ja der Meinung, dass …“)

In seiner Fernsehsendung hielt unser Unterhaltungskünstler die Neuausgabe des Buchs bei Matthes & Seitz von 1980 in Händen, die unterdessen ebenfalls bereits vergriffen ist. Der Text sollte aber antiquarisch nach wie vor einfach aufzutreiben sein; 1926 kam gerade die Große Ausgabe in der 26. Auflage heraus (55.-58. Tausend) und es sollten bis zum Verbot durch Nazi-Deutschland noch mehr werden. Große Ausgabe heißt sie deswegen, weil auch eine so genannte Volksausgabe existierte (in der ich das Buch gelesen habe). Hier die bibliografischen Angabe meiner Ausgabe:

Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung von Otto Weininger. Im ersten und zweiten Teil vollständige, lediglich im Anhange gekürzte Volksausgabe. Erstes bis neuntes Tausend dieser Ausgabe. Mit dem Faksimile aus einem bisher unveröffentlichten Briefe Weiningers an Dr. Hermann Svoboda über Peer Gynt. Wien und Leipzig: Wilhelm Braumüller, Universitäts-Verlagsbuchhandlung Ges.m.b.H., 1926.

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