Ein … ähm … je nun … sagen wir … einigermaßen seltsamer Roman ist das hier ja schon. Und damit meine ich nicht den Titel. Natürlich würden wir heute unter einem solchen Titel eher einen Horror- oder Gruselroman erwarten. Selbst der Moskauer Zensor verweigerte dem Buch die Druckgenehmigung, weil – so argumentierte er – Seelen bekanntlich unsterblich seien. Mit einer Änderung des Titels in Die Abenteuer Tschitschikows erhielt Gogol in St. Petersburg dann die Genehmigung zur Veröffentlichung. Der Moskauer Zensor hatte offenbar nicht realisiert (oder wollte es nicht realisieren), dass umgangssprachlich die einem Gutsherren (es waren meistens Männer) untergebenen Leibeigenen „Seelen“ genannt wurden. Damit finden wir uns aber bereits mitten in die für die Geschehnisse des Romans unumgänglich vorausgesetzten Verhältnisse der russischen Verwaltung und Bürokratie katapultiert.
Zunächst einmal: „Leibeigene“ ist nur ein Euphemismus für „Sklaven“. Jeder russische Gutsherr besaß ein Dutzend oder auch mehrere Hundert solcher Leibeigener. Die meisten Leibeigenen waren als Bauern tätig; ein paar wenige (zum Beispiel die beiden einzigen Leibeigenen des Protagonisten Tschitschikow) waren sonstiges Personal. Diese Bauern mussten eine bestimmte Anzahl von Tagen für den Gutsherren arbeiten, den Rest der Zeit konnten sie für ihre eigenen Felder aufwenden. Der Gutsherr wiederum zahlte für jeden männlichen Leibeigenen eine Kopfsteuer. Dafür wurde in (theoretisch: regelmäßigen) Abständen durch einen speziellen Revisor die Zahl der vorhandenen Leibeigenen festgestellt. Bis zur nächsten Revision zahlte der Gutsherr für diese Anzahl Köpfe. Leibeigene konnten verkauft oder verpfändet werden; dann musste der ehemalige Besitzer nicht mehr für sie zahlen. Anders war es offenbar, wenn sie starben. Die Toten wurden erst bei der nächsten Revision aus der Kopfsteuer heraus genommen. Da nun einerseits die Revision unter Umständen lange auf sich warten ließ, andererseits aber unter den Bauern häufig größere und kleinere Seuchen grassierten und ihre Opfer forderten, zahlten die Gutsherren meist für mehr Seelen Steuern, als tatsächlich da waren. Rückzahlungen nach der nächsten Revision gab es selbstverständlich nicht.
Tschitschikow, unser Protagonist, hat nun diese eigentlich toten, aber für die Bürokratie immer noch existierenden „Seelen“ als Geschäftsmodell entdeckt. Wir treffen ihn zu Beginn des Romans, wie er in der Hauptstadt einer nicht näher lokalisierten Provinz eintrifft. Er sieht passabel aus, hat gute Umgangsformen und ist anständig gekleidet. So dauert es nicht lange, bis er sich bei den Honoratioren eingeführt bzw. eingeschleimt hat. Erst dann rückt er mit dem eigentlichen Ziel seines Aufenthalts heraus, dem Aufkauf von toten Seelen. Im Folgenden lesen wir, wie er der Reihe nach einige der Gutsbesitzer (und eine Besitzerin) besucht, um sie zu diesem Geschäft zu überreden. Jede dieser Personen ist ein Unikat, das Gogol mit satirischer Präzision beschreibt. Jeder dieser Personen ist gemeinsam, dass sie als Gutsbesitzer bzw. -besitzerin aus diesem oder jenem Grund absolut unfähig ist, was Gogol genüsslich und satirisch ausführlich schildert. Tschitschikow kriegt ungefähr 300 tote Seelen zusammen und lässt sich – durch Bestechung der Beamten selbstverständlich – entsprechende Kaufverträge beglaubigen.
So weit, so gut – bis zu diesem Punkt sind wir in einem (im Übrigen ausgezeichnet geschriebenen!) klassischen Schelmenroman. Wir wissen, dass Gogol unter dem Schreiben des ersten Bands beschloss, zwei weitere anzuhängen. Mehr und mehr rückte offenbar in seiner inneren Konzeption von der satirischen Beschreibung der oberen Zehntausend einer Provinz (deren Zahl de facto wohl eher die 50 nicht überschreiten würde) ab und versuchte sich in einer auch ins Positive gewendete Beschreibung des russischen Menschen. Der russische Panslawismus, der im Moment Europa wieder beunruhigt, fand in ihm in seinen letzten Lebensjahren offenbar einen entflammten Vertreter.
Rein literarisch-künstlerisch betrachtet, müssen wir festhalten, dass eine derartige Kehrtwende mitten in einem Werk fast nie gut gegangen ist. Gogol hat das offenbar selber gemerkt. Er schlitterte in eine Schaffenskrise, verbrannte die Druckvorlagen für das zweite Buch und fing das dritte gar nicht mehr an. Was wir heute vor uns haben, was als Gogols Die toten Seelen gedruckt und verkauft wird, sind – neben dem vollendeten ersten Buch – die Entwürfe zu den ersten vier Kapiteln von Buch II, sowie dessen Schlusskapitel. Dieses zweite Buch aber ist einigermaßen wirr geraten, weil viele Zusammenhänge fehlen. Auch Tschitschikow ist ein anderer. Das hat schon gegen Ende des ersten Buchs damit begonnen, dass der Schelm – anstatt schleunigst abzureisen – noch ein paar Wochen im Provinzstädtchen bleibt, deren Honoratioren er gerade über die Ohren gehauen hat. Man will nämlich ihm zuliebe noch Feste feiern. Er fühlt sich gebauchpinselt, und es folgt ein ganzes, großes Kapitel mit der Schilderung seines Vorlebens, das uns erklärt, weshalb er sich so geschmeichelt fühlt. Eigentlich wird der Roman schon ab hier wirr, aber wir können das noch akzeptierten, genau so, wie den – was Tschitschikows weiteres Schicksal betrifft – sehr unpräzisen Schluss.
Buch II ist aber noch wirrer, was zum Teil sicher auch seinem fragmentarischen Charakter zuzuschreiben ist. Es ist nun aber auch zäh, was vor allem daran liegt, dass Tschitschikow immer noch reist, um tote Seelen aufzukaufen. Er trifft jetzt aber nicht nur auf weitere Karikaturen von Gutsbesitzern (das auch), sondern auch auf deren zwei, die sich tatsächlich für ihren Hof einsetzen und die dementsprechend wohlhabend geworden sind. Genau davon aber träumt Tschitschikow auch; er sieht sich bereits selber als wohlhabenden Gutsherren, der abends auf der Veranda sitzt und bei einem Glas Wein die Aussicht genießt. Man sieht: Die Arbeit, die die beiden positiven Gutsbesitzer in ihren Hof gesteckt hat, überspringt er. Er will, wie er im Schlusskapitel einmal sagt, einfach nur schnell reich werden. Tschitschikows Charakter wird im zweiten Buch düsterer; er mutiert vom Sunny Boy und Hochstapler, vom klassischen Schelm, zum immer rücksichtsloseren Verbrecher üblicher Statur, der offenbar bereits nicht mehr vor einer Testamentsfälschung zurückschreckt. Aber auch die satirischen Beschreibungen der übrigen Gutsbesitzer wirkt im zweiten Buch einigermaßen bemüht. Gogol hatte wohl im Grunde genommen sein Pulver diesbezüglich schon im ersten Buch verschossen, auch wollte er ja nun eigentlich nicht mehr satirisch-böse sein. Etwas von der Zähigkeit des zweiten Buchs kann aber sicher auch darauf zurückgeführt werden, dass Gogol jetzt darauf verzichtet, den Autor von Zeit zu Zeit die vierte Wand durchbrechen zu lassen und sich direkt an die Lesenden zu wenden. Dieser Trick macht viel von der Leichtigkeit aus, die Buch I ausstrahlt, und die fehlt nun im zweiten Teil.
Alles in allem ein gutes Beispiel also, wie eine komplette Planänderung unterm Schreiben ein gutes Buch ruinieren kann. Schade um den ersten Teil (den ich allerdings wiederum sehr zur Lektüre empfehlen kann!).
Nikolai Gogol: Die toten Seelen. Ein Poem. Aus dem Russischen übersetzt von Wolfgang Kasack. Anmerkungen und Nachwort von Angela Martini. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1993. (= RUB 412). [Es handelt dabei um eine Lizenzausgabe von Band 2 der fünfbändigen Ausgabe der Gesammelten Werke, erschienen 1988 in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung.]
Und trotzdem ist das Buch immer noch erhältlich und trotzdem wird es als eines der besten Bücher russischer Autoren empfohlen, und das obwohl es unvollständig ist. Das macht es beinahe auch unlesbar, denn die Geschichte hört einfach auf.
Aber das, was es zu lesen gibt, liest sich einfach wunderbar. Als ich es las, war ich noch nicht so unterwegs, mir von Autoren, die ich mag, weitere Bücher zu beschaffen. Gerade denke ich darüber nach, wenn mir Gogol so gefallen hat, hat er vielleicht auch Bücher hinterlassen, die vollständig sind?
Kannst Du eins empfehlen?
Am bekanntesten sind wohl „Die Nase“, „Der Mantel“ (zwei kürzere Texte) und „Der Revisor“, ein Drama. Das ist auch, was ich vor Jahren mal gelesen habe, und ich habe gute Erinnerungen daran. Gogol hat noch viel mehr geschrieben, aber den Rest kenne ich auch nicht.