Das Sinngedicht als Gattung ist heute ausgestorben; kaum jemand schreibt noch „Sinngedichte“, bzw., wie sie in der Fachsprache heißen, Epigramme. Es werden bestenfalls noch „Aphorismen“ verfasst. Die Ansprüche des Sinngedichts an seine Verfasser:innen sind halt bedeutend höher als die des Aphorismus. Auch ein Aphorismus sollte kurz sein, aber ein Sinngedicht ist üblicherweise in Versen abgefasst, genauer in Distichen. (Will sagen: ein Verspaar, Hexameter + Pentameter, nicht unbedingt gereimt, aber sicher mit einer Pointe.) Oder, wie es Lessing, der große Epigrammatiker der deutschen Literatur, umständlich genug, definierte: ein Gedicht, in welchem nach Art der eigentlichen Aufschrift [das Epigramm ist ein Abkömmling der früheren Grabinschriften], unsere Aufmerksamkeit und Neugierde auf irgend einen einzelnen Gegenstand erregt, und mehr oder weniger hingehalten werden, um sie mit eins zu befriedigen.
Lange Zeit wurde Das Sinngedicht als Gottfried Kellers bestes Buch gelobt. (Seine Schriftsteller-Freunde Meyer, Fontane, Storm und Heyse hatten zwar brieflich zunächst ein paar Kritikpunkte anzubringen; Keller aber ging nicht weiter darauf ein.) Tatsächlich ist dem Zürcher in diesem Novellen-Zyklus eine derartige Verschränkung von Rahmen und Binnenerzählungen geglückt, dass man ihn durchaus als Roman betrachten kann. Die einzelnen Novellen hängen ebenso sehr untereinander zusammen, wie sie mit dem Rahmen zusammen hängen. Ja, die ersten paar Novellen (oder Kapitel, wie man will) sind zwar schon in sich abgeschlossene Erzählungen, gehören aber dennoch zum Rahmen. Was fast als Schelmenroman beginnt, wird eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Thema „Liebe“.
Ich will hier den Novellen-Zyklus gar nicht weiter zusammenfassen. Wer so etwas sucht, ist mit dem sehr ausführlichen Text im Wikipedia-Artikel zu Das Sinngedicht bestens bedient. Dafür möchte ich zu zwei Punkten der (literaturwissenschaftlichen) Rezeption der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart meine unmaßgebliche Meinung kundtun.
Da ist zum einen die Auseinandersetzung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaft, die man hier in den 1960ern präfiguriert fand. Man verurteilte Reinhart, den Protagonisten, als kalte und herzlose Person, wie er da seine Versuche am lebenden Menschen macht, und sah darin eine Kritik Kellers an den modernen Naturwissenschaften. Nun wird Reinhart im Titel des ersten Kapitels tatsächlich als Naturforscher eingeführt. Es wird seine Studierstube geschildert und explizit mit der des Doktor Faust verglichen, dabei aber gleich die Einschränkung gemacht, sie sei durchaus ins Moderne, Bequeme und Zierliche übersetzt. So geht es ganze zwei Abschnitte weiter, bis wir dann den Naturforscher erleben, wie er ein Experiment durchführen will, um das innerste Geheimnis solcher durchsichtigen Bauwerke zu beleuchten. Er schließt den Fensterladen und lässt nur einen einzigen Lichtstrahl in den verdunkelten Raum, durch ein kleines Löchlein, das er in den Laden gebohrt hatte. Interessant ist, wie Keller hier – mit Worten, die immer und immer wieder auf Goethe, dessen Faust und dessen Farbenlehre zurückweisen – mit ziemlicher Sicherheit eine für damalige Verhältnisse neue und unerhörte Forschungsrichtung beschreibt, die Kristallographie. Denn was wir hier vor uns haben, sind zum Teil explizite Anlehnungen an Goethe, mit Stichwörtern wie Doktor Faust, ins Bequeme übersetzt oder dem kleinen Löchlein, das der Naturforscher in den Laden gebohrt hatte – Goethe, dessen Alterssprache Keller übernimmt. Wenn Kellers Protagonist dann, weil ihn seine Augen schmerzen, Abwechslung sucht, eilt er in seine Bodenkammer hinauf, wo er in Schränken eine verwahrloste Menge von Büchern stehen hatte, die von den halbvergessenen menschlichen Dingen handelten. Er zog einen Band hervor, blies den Staub davon, klopfte ihn tüchtig aus und findet – Lessing, bzw. in diesem Lessing das Sinngedicht des Barock-Dichters Friedrich von Logau: Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen? // Küß eine weiße Galatee: sie wird errötend lachen.
Goethe und Lessing also: Hier der Mann der Aufklärung (die ihrerseits das letzte Zeitalter der großen Universalgelehrten war), dort der letzte, der Dichtung und Naturwissenschaften noch halbwegs unter einen Hut gebracht hatte: Was Keller als Ideal vorschwebt, ist nicht der Krieg zwischen Natur- und Geisteswissenschaften – sondern der mehr oder weniger vollständig instruierte Mensch, der sich in beiden Sphären bewegen kann.
Komplexer noch ist die Frage nach der Stellung der Frau im Erzähluniversum dieses Novellen-Zyklus. Der Erzähler des Rahmens folgt einzig Reinhart auf seinen Wegen. Der zeigt sich zwar zu Beginn des Buchs als ein – für einen Stubenhocker außergewöhnlich – draufgängerischer ‚Womanizer‘, der gleich die ersten jungen Schönheiten, die er trifft, küsst. (Wir sind im prüden 19. Jahrhundert! Heutzutage wäre das Äquivalent zu diesen Küssen wohl mindestens die Frage:“ Zu mir oder zu Dir?“) Die erste, bei der er zögert und dann verzichtet, entpuppt sich später als eine Frau, die ihr (sexuelles) Wahlrecht geltend gemacht hatte, aber an den falschen Mann geriet. Auf dem Landsitz von Lucie liefert er sich dann mit der jungen Frau eine Art Novellen-Duell. Immer, wenn er in einer Erzählung aufzeigt, wie sich Demut und Liebe auf Frauenseite in Form einer Ehe auszahlen, kriegt er von Lucie (oder ihrem Onkel!) eins auf den Deckel. Solche selbständigen und selbstbestimmten Frauen wie in Kellers Erzählungen findet man in der deutschen Literatur jener Zeit sonst nicht. Dennoch scheint Lucie zum Schluss eine konventionelle Ehe einzugehen, und es ist zu befürchten, dass sie ihre frühere Selbständigkeit dann doch verliert. So ganz konnte Keller seiner Zeit nicht entfliehen …
Trotz allem, nur schon der literarischen Architektur her: Lesenswert! Wer gern über das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften nachdenkt oder / und das Verhältnis von Frau und Mann, wird hier genügend Stoff finden.
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