Zwei Dinge haben mich dann doch erstaunt im Vorfeld meiner Lektüre von Walden. Zum einen war ich der felsenfesten Überzeugung, wir hätten diesen Text (neben Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat der wichtigste und bekannteste Thoreaus) schon ganz früh in der Existenz unseres Blog besprochen. Meine Blicke ins Inhalts- und ins Schlagwortverzeichnis haben mich da eines anderen belehrt.
Noch erstaunlicher aber finde ich, dass Walden, immerhin zur Zeit der frühen Umweltschutzbewegung in den 1970ern noch ein Leittext der Umweltschützer:innen, in der aktuellen Diskussion um den Klimawandel so gar nirgends aufscheint. (Es kann aber sein, dass das ein Phänomen meiner persönlichen Blase ist.) Natürlich wusste Thoreau noch nichts von Klimaerwärmung, aber sein impliziter Aufruf zur Einschränkung der eigenen materiellen Bedürfnisse ist aktueller denn je – er wird heute ja auch mehr und mehr wieder geäußert. Nehmen wir hinzu, dass Thoreau eine der wenigen Persönlichkeiten der US-amerikanischen (Geistes-)Geschichte ist, die bei Progressiven wie bei Konservativen einen guten Ruf genießt, so müsste die Diskussion doch unbedingt auf ihn zurück greifen, finde ich.
Vielleicht ist aber genau da der Wurm drin. Thoreau zitiert den älteren Cato, Konfuzius und aus hinduistischen Schriften, was eine konservative Grundhaltung bestätigt. Ja, viele der Ansichten Thoreaus (bis hin zu seiner Weigerung, dem Staat Steuern zu zahlen, auch wenn er pazifistische Motive dafür angab), sind im Grunde genommen libertaristisch – der schwache Staat, den er in diesem Text implizit wünscht, ist nicht unbedingt ein Ziel der Progressiven. (Tatsächlich wird wohl eine auch nur noch halbwegs effektive Bekämpfung der Klimaerwärmung ohne große staatliche Eingriffe nicht mehr möglich sein.)
Auf der anderen Seite ist es offensichtlich, dass Thoreau die Natur liebt. Er beobachtet sie genau und beschreibt sie präzise. Das macht dann den auch literarisch gelungenen Teil dieses Textes aus. Man könnte nun Thoreaus einsames Leben in einer selbst gezimmerten kleinen Hütte, fernab von anderen Menschen, als Nahrung nur Pflanzen aus der Umgebung, als Getränk einzig das Wasser des Sees, als eine Art Utopie betrachten. (Tatsächlich wird eine – vielleicht nicht ganz so drastische – Reduktion unseres Konsums in naher Zukunft wohl unumgänglich werden.) Aber Thoreau ist ein Spezialfall. Während die antiken Stoiker eine Affekt-Unterdrückung, die antiken Kyniker eine Unterdrückung von Luxus-Bedürfnissen propagierten, also gegen (vermeintliche?) menschliche Regungen Sturm liefen, vermittelt Thoreau jederzeit den unaufgeregten Eindruck, dass der Verzicht für ihn keine inneren Kämpfe bedeutete. Luxus in Nahrung oder Kleidung interessierte ihn offenbar wirklich nicht. Der Genuss von Kaffee oder Wein lockte ihn nicht; er konnte sich an einem interessanten Gespräch mit einem Freund ‚betrinken‘. Auch von Frauen in seinem Leben wissen wir nichts. Er war in seinem ‚abgeschiedenen‘ Leben aber keineswegs dogmatisch: Er lebte nur bedingt alleine; seine Hütte stand auf Grund und Boden, der seinem Freund Emerson gehörte und der nur ungefähr eine Meile entfernt wohnte; regelmäßig besuchten ihn Freunde oder es kamen Fremde vorbei, die fischen wollten oder Holz schlagen: auf der anderen Seite des Sees verlief die Eisenbahnlinie Concord – Boston, und er hörte den Lärm der Dampflokomotiven sehr gut. Er war auch nicht zu 100% Selbstversorger: Seine Kleidung – auch wenn sie sehr einfach war und nicht unbedingt modisch – hatte er offenbar gekauft; die Bohnen, die er anpflanzte, ass er nicht selber (er sei hierin Pythagoreer, meint er, er esse keine Bohnen), sondern tauschte sie gegen Reis, den er dann kochte und aß. Auch einige wenige Bücher standen auf seinem Tisch, darunter Homer. (Er lebte, nebenbei gesagt, zwar vorwiegend vegan, ging aber von Zeit zu Zeit fischen und so befand sich auch schon mal ein Fisch aus dem See auf seinem Speiseplan. Dogmatik war seine Sache nicht.)
Summa summarum: Walden stellt nach wie vor eine faszinierende Lektüre dar. Dass heute der Toteissee von Algen überwuchert wird, weil zu viele Phosphate hinein fließen, ist eine traurige Ironie der Geschichte. Dass nur etwa die Hälfte dieser Schadstoffe aus den weggeschwemmten Düngemitteln der umgebenden Landwirtschaft stammt, die andere Hälfte aber aus dem Urin von Zehntausenden von Menschen, die jährlich Walden Pond besuchen, um dort Einsamkeit zu finden, hätte Thoreau in seiner nicht sehr vorteilhaften Meinung über die Menschheit als Spezies wohl bestätigt.
Gelesen in der Everyman-Ausgabe aus dem Jahr 1995, herausgegeben von Christopher Bigsby.
Scott Nearing hat mich als Jugendlicher sehr begeistert. Der hat sich sehr auf Thoreau berufen. Heute erscheint mir diese Sehnsucht nach Einfachheit und dieses „Zurück zur Natur“ ziemlich rückschrittlich, das alle auf dem Land in Farmen wohnen eher als Dystopie.