Dr. Friedrich Löwenberg saß in tiefer Melancholie an dem runden Marmortisch seines Kaffeehauses.
Mit diesem Satz beginnt der vorliegende Roman. Früher, erfahren wir im Folgenden, saßen sie zu Dritt an diesem Tisch, doch seine beiden Freunde sind tot – der eine durch Selbstmord, der andere wanderte nach Brasilien aus, wo er von einem Flussfieber erwischt wurde; wir schreiben das Jahr 1903. Löwenberg ist ein noch junger Mann, aber trotz eines Studiums arbeitslos – so, wie es auch seine beiden Freunde gewesen waren. Ihr großer Fehler für den Arbeitsmarkt war bzw. ist es, dass sie alle – Juden waren. Das einzige, was Löwenberg noch am Leben erhält, ist seine Liebe zu einer jungen Frau. Doch sehr früh im Roman erleben wir schon, wie sie an einer Abendgesellschaft, zu der er auch eingeladen ist, die Verlobung mit einem reichen junge Mann bekannt gibt. Nun hat seine Verzweiflung ihren Tiefpunkt erreicht und er antwortet auf eine Zeitungsannonce die einen ebensolchen völlig verzweifelten Mann sucht. Es stellt sich heraus, dass ein reicher, aber misanthropischer deutscher Baron, der seinen Namen amerikanisiert hat, einen Begleiter sucht, um auf eine einsame Insel in der Südsee auszuwandern – mit allem Komfort natürlich. Die beiden werden handelseinig und reisen ab. Unterwegs machen sie einen Abstecher nach Palästina – eine Gegend, die aber beide abstößt, weil sie nur aus Wüste und Schmutz besteht, in der ein paar halbverhungerte Araber leben.
Zeitsprung. 20 Jahre später. Die beiden Freunde kehren aus ihrem selbst erwählten Exil zurück. Sie wollen noch einmal Europa besuchen. Vorher aber machen sie einen Abstecher nach Palästina. Wie sehr staunen sie aber, als sie dort modernstes Leben, Reichtum und Fülle vorfinden!
Der Rest des Romans widmet sich dann ihrer Erkundung des so fremd gewordenen Landes und der Suche nach den Gründen für diese Entwicklung. Es sind, kurz gesagt, aus Europa ausgewanderte Juden, die nun im gelobten Land, dem alten Land ihres Glauben, den neuen Land ihrer Arbeit, mit einem Wort in Altneuland leben und wirken.
Springen wir nun aus dem Roman heraus, der im Übrigen mehr oder weniger die Standard-Topoi einer jeden Utopie vorträgt. Theodor Herzl, sein Autor, war war seinerzeit der Motor der zionistischen Bewegung, jener Gruppe von Leuten, die die Juden und die übrige Welt davon zu überzeugen versuchten, dass das beste Mittel gegen den überall in Europa schwelenden Antisemitismus wäre, den Juden wieder Platz in ihrer alten Heimat einzuräumen. 1896 erst hatte er in einer theoretischen Schrift (Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage) diese Lösung vorgeschlagen, nun versuchte er sie einem breiteren Publikum in Romanform beliebt zu machen.
Es ist eine Frage der Definition des Wortes ‚Science Fiction‘, ob der Roman tatsächlich in die Reihe „Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction“1) gehört. Noch in den 1960ern war es im deutschsprachigen Raum Usus, Bücher, die in den USA als ‚Scientific Fiction‘ oder eben ‚Science Fiction‘ gehandelt wurden, als ‚Zukunftsromane‘ oder als ‚utopische Romane‘ zu bezeichnen. Insofern passt Herzls Altneuland in die Reihe. Wenn wir aber ‚Science Fiction‘ in seiner Kernbedeutung nehmen, müssen wir konstatieren, dass Altneuland so wenig wissenschaftliche Fiktion ist wie der Ahnherr und Namensgeber aller Utopien, Utopia. Beide wollen das ja auch nicht sein.
Es handelt sich bei Altneuland um eine politische Utopie, und als Roman ist die Geschichte sogar nicht unbedenklich. Ich spreche nicht von den Resultaten, die Herzls Wunschdenken in der Realität haben sollte. Da wurde schon mit der Balfour-Erklärung so ungefähr alles verkorkst, was man verkorksen konnte. Aber Herzl ist – wenn es nicht gerade direkt ums Judentum geht – in so vielem ein typisches Kind seiner Zeit. So geht er davon aus, dass das überlegene Kapital, das in seinem Roman ein paar reiche Juden aufwerfen, um Land in Palästina zu kaufen, nachgerade wuchern wird.2) Dass es die einheimische Bevölkerung blenden wird und zur Nachahmung stimulieren – sprich, dazu, ebenfalls Kapitalist zu werden. (Wobei die wirklichen Großkapitalisten in Herzls Utopie – Genossenschaften sind, eine sehr seltsame Konstruktion, am ehesten vielleicht vergleichbar mit Tendenzen in Titos Jugoslawien.) De facto aber treten in Herzls Utopie die europäischen Juden als Kolonialherren auf, mit einer Ausnahme finden wir keine Araber oder Muslime in seiner jüdischen Kolonie. Herzl ging auch in seinen theoretischen Schriften davon aus, dass die unterdessen seit Jahrhunderten in Palästina heimischen Araber die Juden noch so gerne eindringen lassen würden. (Seit 70 Jahren weiß die Welt, dass dem nicht so ist – und unternimmt nichts, die vermurkste Situation irgendwie zu begradigen.)
Ansonsten finden wir die typischen Versatzstücke einer Gesellschaftsutopie. Erziehung und Schulwesen zum Beispiel bestehen vor allem darin, dass die Schülerinnen und Schüler bis zur Reifeprüfung in der Mittelschule die gleiche einfache Kleidung tragen müssen – wie wenn eine Schuluniform die Lösung gesellschaftlicher Ungleichheiten bewirken könnte. Bei anderen gesellschaftlichen Fragen kann Herzl nicht über seinen patriarchalischen Schatten springen: Frauen dürfen zwar wählen und gewählt werden – ihre eigentliche Rolle aber ist nach wie vor die der züchtigen Hausfrau und Mutter.
Am schlimmsten aber ist die Darstellung der – Juden. Der jüdische Selbsthass, den (wenn ich mich recht erinnere) ungefähr zur selben Zeit Karl Kraus konstatiert hat, existiert eindeutig auch bei Herzl. Da ist zunächst die Darstellung gewisser sich schon in Wien als bessere Gesellschaft fühlender Juden und Jüdinnen, die letzten Endes bei den Protagonisten nur als hirnlose Klatschmäuler ankommen. Da ist vor allem aber Mendel, der Gegner der Freunde der beiden Südsee-Exilanten bei der anstehenden Delegierten-Wahl, der genau jenen ostjüdischen Tonfall aufweist, den antisemitische Schriften so gern allen Juden zuschreiben. Dieses Sich-Distanzieren vom so genannten ‚Ostjuden‘ war damals vielen europäischen Juden eigen.
Fazit: Eigentümlich und interessant. Dies aber vor allem als Symptom-Beschreibung in vieler Hinsicht der gesellschaftlichen Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
1) Nämlich die bibliografischen Angaben:
Theodor Herzl: Altneuland. Erschienen in der Reihe „Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction“. Berlin: Hirnkost KG, 2023
2) Der große Unterschied von Herzls Utopie zur dann tatsächlich getroffenen Lösung ist nämlich der, dass bei Herzl kein Staat Israel gegründet wird. Im Grunde genommen leben die Juden bei ihm als eine Art riesiger, vor allem landwirtschaftlich ausgerichteter Konzern (der vorwiegend Tabak, Wein und Getreide produziert) auf Land, das politisch gesehen zum Osmanischen Reich gehört (dass dieses 1923, zum Zeitpunkt, an dem der Roman hauptsächlich spielt, bereits nicht mehr existieren würde, konnte Herzl 1902 natürlich noch nicht voraussehen. Er würde diese Entwicklung auch nicht mehr erleben). Dass in der Realität weder der Sultan noch der Papst sich eine derartige Konzentration von Macht und Geld, noch dazu unter einem anderen Glauben, vorstellen oder wünschen konnten, wird nicht erstaunen.