Band III der neuen Lukian-Werkausgabe, die seit 2021 im Jahresrhythmus in der Sammlung Tusculum neu erscheint, herausgegeben und übersetzt von Peter von Möllendorff, ist wie seine beiden Vorgänger zweisprachig gehalten: links das griechische Original, rechts die deutsche Übersetzung. Zur Originalversion kann ich nichts sagen; ich bin kein Gräzist. Die Übersetzung klingt elegant und geschmeidig; die Sprache ist der des Übersetzer-Vorgängers Wieland würdig. Manchmal nur erschreckt einen Möllendorff, wenn er plötzlich einen Anglizismus des 21. Jahrhunderts verwendet. Da es sich bei den Texten in Band III um Gespräche handelt, vermute ich, dass Möllendorff dies tut, um darauf hinzuweisen, dass Lukian in seinen Gesprächen eben auch Umgangssprache seiner eigenen Zeit verwendet und kein klassisches attisches Griechisch. Was wiederum von Lukian ganz sicher ebenfalls bewusst so gehandhabt wurde: Es ist Teil seiner satirischen Intention, die Götter (denn es handelt sich in Band III um lauter Göttergespräche) nicht in der Sprache Homers oder Hesiods, Euripides’, Demosthenes’ oder Aischylos’ reden zu lassen sondern in Gassen-Slang.
Das Buch selber ist in zwei Teile unterteilt. Im zweiten Teil (Götter unter sich … und unter Menschen) lässt Lukian Götter (und Menschen) auftreten, die altbekannte mythologische Situationen besprechen oder nachstellen. Diese Gespräche unter Göttern (und Menschen) klingen dann ganz ähnlich, wie wenn heutzutage Nachbar:innen im Treppenhaus oder am Gartenzaun miteinander über dritte, abwesende Personen klatschen und tratschen. So manche Geschichte, die wir aus der Mythologie kennen, erhält dadurch ein ganz spezielles Gesicht.
Nun ist der zweite Teil manchmal ganz witzig, aber viel interessanter wollte mir die erste Hälfte des Buchs scheinen, Götter auf dem Prüfstand. Hier fährt Lukian das ganze schwere Geschütz auf, das er gegen die überlieferten Mythen aufzubieten hat. Hier ist es, wo ein Kynikerlein Zeus im Zwiegespräch in die Enge treibt, wenn er ihn fragt, wie das denn nun mit den Moiren sei und ihrer Macht auch über die Götter. Diese Macht muss Zeus eingestehen, worauf das Kynikerlein ihn ganz unschuldig fragt, warum denn die Menschen ihm, Zeus, opfern sollten oder ihn im Gebet um diesen oder jenen Gefallen bitten, wenn schlussendlich doch die Moiren entscheiden würden. Zeus windet sich und läuft zum Schluss einfach davon. Sein einziges Argument bleibt, dass es Dinge gebe, die die Menschen nichts angingen, weil sie nichts davon verständen. Die Taktik des Kynikerleins, feststehende Lehrsätze einer Religion auf logische Konsequenzen abzuklopfen, wird bis heute angewendet. Die des Zeus – auch. (Eine zusätzliche Pointe Lukians geht in der Übersetzung verloren und muss von Möllendorff in einer Anmerkung erklärt werden: Für den ‚Kyniker‘ als Mitglied einer philosophischen Schule wird im Griechischen das gleiche Wort verwendet wie für den Hund. Wir haben mit dem Kynikerlein also einen kleinen Hund vor uns – einen Welpen. Der große Zeus wird von einem Welpen schachmatt gesetzt …)
Ein Wort noch zur Einleitung des Herausgebers (wenn ich beginne, ein Buch von hinten her zu besprechen, mache ich das konsequent): Er geht darin auf die Rezeption dieser Texte im 19. Jahrhundert ein, nachdem er festgestellt hat, dass noch Wieland mit der tendenziell atheistischen Position Lukians keine Probleme hatte, während viele Gräzisten des 19. Jahrhunderts den antiken Satiriker deswegen verurteilten, allenfalls ihn dahingehend entschuldigten, dass er mit seiner Kritik an den antiken Mythen den Boden vorbereitet habe für die Verbreitung des Christentums. Möllendorff hält fest, dass hier eine völlig falsche Ansicht der antiken Religiosität herrschte. Religiös war man im antiken griechischen Staat, wenn man der oder den offiziellen Schutzgottheiten der Stadt regelmäßig opferte und an den offiziellen Feierlichkeiten zu deren Gunsten teilnahm. Eine innere Zustimmung, ein Glaube oder Religiosität im heutigen Sinn, wurden nicht verlangt, ja, waren unbekannt. Dies kam erst mit dem Christentum ins Spiel und vor allem dann wieder in der Verinnerlichung des Glaubens, wie sie in der romantisch-protestantischen Theologie eines Schleiermacher gesetzt wurde und im 20. Jahrhundert dann auch in den Katholizismus übernommen. (Und ja: Wenn, wie Lukian hier erzählt, Sokrates zum Tod verurteilt wurde, weil er nicht an die überlieferten Götter geglaubt habe, hält er ganz nebenbei fest, dass der Asebie-Prozess damals gegen den Philosophen politisch motiviert war.) Lukians Satire ist bildungsbürgerliches Spiel. Ähnlich hat Pausanias, der Baedeker der Antike, in jeder von ihm besuchten Stadt die lokalen Opferstätten der Götter besucht. Es war für einen reisenden Bildungsbürger der Zeit nämlich wichtig, diese zu kennen – die dahinter stehenden Mythen inklusive. Und dass hier von Zeus mal dies und dort mal jenes erzählt wurde, nahm man als völlig normal hin. Allenfalls würde man bei sich eben solche wissenden, ironisch-satirischen Vergleiche anstellen, wie es hier Lukian tat.
Insgesamt ein sehr interessanter, ja ein kultur- und religionsgeschichtlich interessanter Band. Lukian ist so oder so interessant, aber auch die den Hintergrund dieser Texte erklärenden Ausführungen des Herausgebers sind wichtig fürs Verständnis nicht nur dieser Texte sondern der Antike im Allgemeinen. (Was er nämlich über das antike Griechenland festhält, gilt, wie er selber schreibt, praktisch identisch noch im alten Rom.)
Lukian: Band III: Rhetorische Schriften. Griechisch – deutsch. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Peter von Möllendorff. Unter Mitwirkung von Jens Gerlach. Berlin, Boston: Walter de Gruyter, 2023. (Erschienen in der Sammlung Tusculum)