Os Lusíadas, so heißt das portugiesische Nationalepos. Der Todestag dessen Verfassers Luís Vaz de Camões, der 10. Juni, ist der portugiesische Nationalfeiertag. Trotzdem ist aktuell keine deutsche Übersetzung greifbar, und selbst der dazu gehörende Wikipedia-Artikel stellt nur einen besseren Platzhalter dar, was den Stellenwert der portugiesischen Literatur im deutschen Sprachraum nur allzu gut charakterisiert. Leider.
In seinem Epos erzählt Camões die Geschichte der Entdeckung des Seewegs von Portugal nach Indien durch Vasco da Gama. Da kommt natürlich viel Lob Portugals und der Portugiesen unter und auch Vasco da Gamas. Damit dieses Lob in einem gebührenden Kleid daher kommt, hat sich Camões auch formal große Mühe gegeben:
Das Epos besteht aus 10 Cantos mit einer unterschiedlichen Anzahl Strophen (insgesamt sind es deren 1‘102). Jede Strophe zählt 8 Verse, im klassischen, ursprünglich aus Italien stammenden Schema der Ottava rima (dt.: Stanze), bei Camões im Reimschema ABABABCC. Auch inhaltlich hat sich Camões einiges überlegt.
Die Erzählung beginnt, als Vasco da Gama bereits den afrikanischen Kontinent umrundet hat und sich nun anschickt, von Melinde aus (dem heutigen Malindi in Kenia), den Indischen Ozean in Richtung Calicut zu bereisen (dem heutigen Kozhikode im indischen Bundesstaat Kerala). Er ist nicht der einzige in Melinde; schon seit Jahrhunderten existierte ein reger Seehandel zwischen dieser Stadt und Calicut, so dass die muslimischen Kaufleute an beiden Enden ihrer Handelsroute über starke Stützpunkte verfügten. Deshalb darf es nicht verwundern, muss Camões als erstes von einer Intrige berichten, mit der die Kaufleute von Melinde die portugiesische Konkurrenz davon abhalten wollen, nach Indien zu gelangen.
Nebenbei: In meiner Übersetzung ebenso wie im portugiesischen Original wird von diesen Kaufleuten als von Mohren gesprochen; das Wort moros war aber im 16. wie im 19. Jahrhundert zweideutig und konnte sowohl die schwarzen Indigenen Afrikas meinen wie die „Mauren“, also die (im Grunde genommen weißhäutige) Bevölkerung entlang der Mittelmeerküste Afrikas bzw. sogar Araber. Ich vermute, dass Camões hier arabische Kaufleute meint. Was uns heute natürlich ins Auge sticht, ist der Umstand, dass praktisch alle Mohren hinterhältig und verlogen agieren. Ob Camões dies aber ihrer Hautfarbe zuschreibt ihrer Religion oder beidem zusammen, bleibt offen.
Ein weiterer geschickter Schachzug des Autors ist die Art und Weise, wie er sein Epos an die klassischen Epen Homers und vor allem Vergils erinnern lässt. Auch Camões lässt nämlich Homers und Vergils Götter eine aktive Rolle spielen bei der Entdeckungsreise Vasco da Gamas. Dabei laviert Camões geschickt: So lässt er in einer Szene (Canto VI), in der der Held keinen Ausweg aus einer ihm von den Mohren gestellten Falle mehr sieht, zu seinem Gott (also dem christlichen) um Hilfe beten, während es dann aber die antike Göttin Venus ist, die Hilfe leistet. Damit war einerseits die Rückbindung an die (ebenfalls einen Staat bildende) Aeneis des Vergil geleistet, wie gleichzeitig die Gefahr gebannt, die Inquisition auf sich aufmerksam zu machen.
Um die deutsche Wikipedia ein wenig zu ergänzen, hier noch die kurzen Zusammenfassungen der einzelnen Canti, wie sie in der englischen zu finden sind, übersetzt mit DeepL, überarbeitet von mir.
Canto I
Das Epos beginnt mit einem Widmungsteil, in dem der Dichter Vergil und Homer huldigt. Die erste Zeile ahmt die Anfangszeile der Aeneis nach und ist eine hoffnungsvolle Hommage an den jungen König Sebastião, das ist Sebastian I., „der Ersehnte“ (portugiesisch Dom Sebastião I., «O Desejado», aus dem Haus Aviz). Die Geschichte zeigt dann (in Anlehnung an die klassischen Epen) die griechischen Götter, die über die Reise von Vasco da Gama wachen. So wie die Götter während der Reise von Odysseus und Aeneas geteilte Loyalitäten hatten, steht hier Venus, die die Portugiesen begünstigt, Bacchus gegenüber, der hier mit dem Osten assoziiert wird und sich über die Einmischung in sein Territorium ärgert. Die Erzählung der Reise von Vasco da Gama beginnt in medias res, als sie bereits das Kap der Guten Hoffnung umrundet haben. Auf Drängen von Bacchus, der als Maure verkleidet ist, planen die einheimischen Muslime einen Angriff auf den Entdecker und seine Mannschaft.
Canto II
Zwei von Vasco da Gama ausgesandte Späher werden durch einen von Bacchus errichteten falschen Altar getäuscht und glauben, dass es unter den Muslimen Christen gibt. So werden die Entdecker in einen Hinterhalt gelockt, überleben aber dank der Hilfe von Venus. Venus wendet sich an ihren Vater Jupiter, der den Portugiesen im Osten großes Glück voraussagt. Die Flotte landet in Melinde, wo sie von einem freundlichen Sultan empfangen wird.
Canto III
Nach einem Appell des Dichters an Kalliope, die griechische Muse der epischen Poesie, beginnt Vasco da Gama, die Geschichte Portugals zu erzählen. Er beginnt mit einem Hinweis auf die Lage Portugals in Europa und die legendäre Geschichte von Lusus (einem Gefährten des Bacchus(!), so viel ich weiss, ist dieser Lusus eine Erfindung des Camões). Es folgen Passagen über die Bedeutung der portugiesischen Nationalität und dann eine Aufzählung der kriegerischen Taten der Könige der 1. Dynastie, von Dom Afonso Henriques bis Dom Fernando.
Canto IV
Vasco da Gama setzt die Erzählung der Geschichte Portugals fort, indem er die Geschichte des Hauses Aviz von der Krise von 1383-85 bis zu dem Moment während der Herrschaft von Dom Manuel I. erzählt, als die Armada von Vasco da Gama nach Indien segelt. Auf die Erzählung der Krise von 1383-85 folgen die Ereignisse der Regierungszeit von Dom João II, vor allem jene, die mit der Expansion nach Afrika zusammenhängen. Nach dieser Begebenheit erzählt das Gedicht von der Seereise nach Indien – ein Ziel, das Dom João II. zu seinen Lebzeiten nicht erreichte, das sich aber mit Dom Manuel erfüllen sollte, dem die Flüsse Indus und Ganges in Träumen erschienen, die die zukünftigen Herrlichkeiten des Orients voraussagten. Dieser Gesang endet mit dem Auslaufen der Flotte des Vasco, deren Matrosen von den prophetisch-pessimistischen Worten eines alten Mannes überrascht werden, der sich inmitten der Menge am Strand befand.
Canto V
Die Geschichte geht weiter zum König von Melinde und beschreibt die Reise der Armada von Lissabon nach Melinde. Während der Reise sehen die Seeleute das Kreuz des Südens, das Elmsfeuer und finden sich einer Vielzahl von Gefahren und Hindernissen gegenüber, wie der Feindseligkeit der Eingeborenen in der Episode von Fernão Veloso, der Wut eines Ungeheuers in der Episode des Riesen Adamastor und der Krankheit und dem Tod durch Skorbut. Canto V endet mit einem Tadel des Dichters an seine Zeitgenossen, die die Poesie verachten.
Gesang VI
Nach der Erzählung von Vasco da Gama segelt die Armada von Melinde aus, begleitet von einem Lotsen, der ihnen den Weg nach Calicut zeigt. Bacchus, der sieht, dass die Portugiesen kurz vor der Ankunft in Indien stehen, bittet Neptun um Hilfe, der ein „Concílio dos Deuses Marinhos“ (Rat der Meeresgötter) einberuft, das beschließt, Bacchus zu unterstützen und starke Winde zu entfesseln, um die Armada zu versenken. Während die Seeleute Fernão Veloso zuhören, der die legendäre und ritterliche Episode von Os Doze de Inglaterra (Die zwölf Männer von England) erzählt, bricht ein Sturm los. Vasco da Gama, der den nahen Untergang seiner Karavellen sieht, betet zu seinem eigenen Gott, aber es ist Venus, die den Portugiesen hilft, indem sie die Nymphen schickt, um die Winde zu verführen und sie zu beruhigen. Nach dem Sturm erreicht die Flotte Calicut, und Vasco da Gama dankt Gott. Der Gesang endet damit, dass der Dichter über den Wert von Ruhm und Ehre spekuliert, die der Seefahrer durch große Taten erreicht hat.
Canto VII
Nachdem der Dichter einige der anderen europäischen Nationen verurteilt hat (die seiner Meinung nach den christlichen Idealen nicht gerecht werden), erzählt er von der Ankunft der portugiesischen Flotte in der indischen Stadt Calicut. Ein Moslem namens Monçaide empfängt die Flotte und berichtet den Entdeckern von den Ländern, die sie erreicht haben. Der König, Samorin, hört von den Neuankömmlingen und lässt sie zu sich rufen. Ein Gouverneur und Beamter des Königs (diese werden Catual genannt) führt die Portugiesen zum König, der sie freundlich empfängt. Der Catual spricht mit Monçaide, um mehr über die Neuankömmlinge zu erfahren. Der Catual geht dann selbst zu den portugiesischen Schiffen, um zu bestätigen, was Monsayeed ihm erzählt hat, und wird gut behandelt.
Gesang VIII
Der Catual sieht eine Reihe von Gemälden, die bedeutende Persönlichkeiten und Ereignisse aus der portugiesischen Geschichte darstellen, die alle vom Autor ausführlich beschrieben werden. Bacchus erscheint in einer Vision einem muslimischen Priester am Hof von Samorin und überzeugt ihn, dass die Entdecker eine Bedrohung darstellen. Der Priester verbreitet die Warnungen unter den Catuals und am Hof, was Samorin dazu veranlasst, da Gama zu seinen Absichten zu befragen. Da Gama besteht darauf, dass die Portugiesen Händler und keine Seeräuber sind. Der König verlangt daraufhin Beweise von Vasco da Gamas Schiffen, doch als dieser zur Flotte zurückkehren will, muss er feststellen, dass der Catual, der von den muslimischen Führern korrumpiert wurde, sich weigert, ihm im Hafen ein Boot zu leihen, und ihn gefangen hält. Da Gama kann sich erst befreien, nachdem er zugestimmt hat, dass alle Waren auf den Schiffen an Land gebracht und verkauft werden.
Canto IX
Die Muslime planen, die Portugiesen festzuhalten, bis die jährliche Handelsflotte aus Mekka eintreffen kann, um sie anzugreifen, aber Monçaide erzählt da Gama von der Verschwörung, und die Schiffe entkommen aus Calicut. Um die Entdecker für ihre Bemühungen zu belohnen, bereitet Venus eine Insel vor, auf der sie sich ausruhen können, und bittet ihren Sohn Amor, die Nereiden für sie zu begeistern. Als die Seeleute auf der Insel der Liebe ankommen, geben die Meeresnymphen vor zu fliehen, ergeben sich aber schnell.
Canto X
Während eines üppigen Festmahls auf der Liebesinsel prophezeit Thetis, die nun die Geliebte von da Gama ist, die Zukunft der portugiesischen Entdeckungen und Eroberungen. Sie berichtet von Duarte Pacheco Pereiras Verteidigung von Cochin (Schlacht von Cochin), von der Schlacht von Diu, die Francisco de Almeida und sein Sohn Lourenço de Almeida gegen die vereinigten Flotten der Gujarati und Ägypter führten, von den Taten von Tristão da Cunha, Pedro de Mascarenhas, Lopo Vaz de Sampaio und Nuno da Cunha sowie von den Schlachten von Martim Afonso de Sousa und João de Castro (wobei ganz nebenbei die zufällige Entdeckung des späteren Brasilien erwähnt wird – noch ohne den heute bekannten Namen, wie überhaupt jene Gegend noch zur Zeit des Camões für Portugal völlig irrelevant war). Thetis führt da Gama dann auf einen Gipfel und offenbart ihm eine Vision der Funktionsweise des (ptolemäischen) Universums. Die Reise geht weiter mit Blicken auf die Länder Afrikas und Asiens. An dieser Stelle wird die Legende vom Martyrium des Apostels Thomas in Indien erzählt. Schließlich erzählt Thetis von der Reise des Magellan. Das Epos schließt mit weiteren Ratschlägen an den jungen König Sebastião.
Da es im Buchhandel keine deutsche Ausgabe der Lusiaden gibt, habe ich auf ein antiquarisch erworbenes Buch zurückgegriffen, eigentlich deren zwei:
Die Lusiade [sic!] des Camoens. Aus dem Portugiesischen ins Deutsch Ottavereime übersetzt. Wien: Chr. Fr. Schade, 1828. (= Classische Kabinetts⸗Bibliothek oder Sammlung auserlesener Werke der deutschen und Fremd⸗Litteratur. Hundert und fünf [sowie sechs] und vierzigstes Bändchen). Die Übersetzung stammt dabei von Friedrich Adolph Kuhn und Theodor Hell, zwei minderen Poeten der Spätromantik, deren grösste literarische Tat wohl diese Übersetzung war. Diese Übersetzung ist wortgleich zu dem im Projekt Gutenberg-DE zu findenden Text, der 1816 bei Anton Pichler, ebenfalls in Wien, erschienen ist. Zum ersten Mal ist diese Übersetzung 1805 oder 1806 erschienen.
Dass sich beide Übersetzer im Titel (wahrscheinlich durch die Nebenform der Ilias: die Iliade) dazu verführen ließen, Lusiade als Singular zu verwenden, während Camões (wie ja schon der Plural-Artikel Os beweist) an die Lusiaden in der Mehrzahl gedacht hat – nämlich an die Nachfahren jenes fiktiven Lusus, anders gesagt: an die Portugiesen –, ist der einzige Wermutstropfen in einer ansonsten wirklich gelungenen Übersetzung, die obwohl in Versen und Reimen des Originals gehalten (was damals als ‚state of the art‘ galt!), nie bemüht oder klobig wirkt.
Ob ich den Mischmasch lesen werde, muss ich mir noch überlegen. Am erstaunlichsten daran ist, dass die Inquisition so was durchgehen ließ, wie es auf dem Titelblatt der Erstausgabe zu sehen ist: „com licença da sancta Inquisiçao“. Dazu steht auf der französischen Wikipedia-Seite ein bisschen was. Demnach war jene viel geschmähte Institution kunstsinnig genug zu konzedieren, der Einsatz heidnischer Götter sei „un artifice purement littéraire“, betont aber „que les dieux païens sont tous des démons.“ Immerhin, wenn der wahre Gott sich so vornehm zurückhält, als wäre er von Epikur erfunden, und an ihn gerichtete Gesuche von der Dämonin Venus beantworten lässt, während von Anbeginn der Ratschluss des Oberdämons Jupiter über die Geschicke Portugals waltet… Und was soll man davon halten, dass so eine Dämonin flugs in die Koje des Vasco da Gama springt? Entweder Thetis oder Tethys, die Angaben sind widersprüchlich. Tethys als höherrangige Gemahlin des Okeanos wäre imposanter, wobei noch Ehebruch hinzukäme, wohingegen Thetis schon lange Witwe des Peleus war. Dass übrigens ausgerechnet Bacchus einen Mullah berät, läuft außer Konkurrenz.