Jules Verne: Paris au xxᵉ siècle

Links und rechts ein roter Streifen, dann gegen innen ein dünner schwarzer; beide sind unterbrochen durch goldene intermittierende Streifen, die an alte Lochkarten erinnern. Dies bildet einen Rahmen für eine kolorierte Zeichnung, die links eine dampfbetriebene Hochbahn auf einem Viadukt aus Stahl zeigt, rechts fährt eine Schwebebahn mit rotem Boden durchs Bild. In der Mitte ein Teil einer riesigen Marmorsäule. Ausschnitt aus dem Buchcover; das verwendete Bild heißt "Paris futur", © Kharbine Tapabor (das ist eine auf historische Bilder spezialisierte Fotoagentur in Paris).

Paris im 20. Jahrhundert – im Grunde genommen ist die Geschichte des Manuskripts selber viel spannender und interessanter als die Geschichte, die das Manuskript erzählt. Jules Verne schrieb diesen Roman nämlich schon 1860. Andere Quellen nennen 1863, aber mir will 1860 nur schon darum plausibler scheinen, weil Verne den Roman so genau 100 Jahre nach seiner Entstehung spielen lässt. 1863 war aber wohl das Jahr, in dem er das Manuskript an Pierre-Jules Hetzel, seinen Verleger schickte. Der retournierte es – mit einer Absage, vielen Korrekturen und Korrekturvorschlägen garniert und auch ein paar nicht so netten Bemerkungen über Vernes Fähigkeiten als Schriftsteller. Verne, so scheint es, hat noch versucht, den Roman umzuarbeiten, ihn aber dann – wahrscheinlich frustriert – bei Seite gelegt. Nach Jules Vernes Tod war der Roman nicht aufzufinden und galt als verloren. (Das hatte den Vorteil, seinen Sohn Michel daran zu hindern, diesen Roman auch, wie viele andere seines Vaters, ‚fertig zu stellen‘.) Auch die nächste Generation wusste nichts über den Verbleib des Manuskripts. Als nun eine der Enkelinnen ihr angestammtes Haus altershalber verlassen musste, fanden Mitglieder der helfenden Urenkel-Generation dabei auch einen uralten Safe im Keller. Die Enkelin erinnerte sich daran, dass er von Jules persönlich stammen müsse, aber schon dessen Sohn Michel hätte keinen Schlüssel mehr dazu gehabt, und überhaupt sei der Safe leer. Es war dem Insistieren eines Urenkels zu verdanken, dass seine Mutter schließlich doch noch zustimmte, dass man den Safe zu öffnen versuche. („Wozu das Geld ausgeben? Er ist leer.“) Ein erster Versuch scheiterte und die spezialisierte Firma schlug vor, den Safe aufzusprengen, wozu man dann auch überging. Auf die Frage des Sprengmeisters, ob er die Ladung oben oder unten am Safe befestigen solle, wollte niemand Antwort geben. Wohl weil es einfacher war, entschied sich der Sprengmeister dafür, das Loch oben hinein zu sprengen. Das erwies sich als Glücksfall, denn so schützten die Böden des oberen und des mittleren Fachs den Inhalt des untersten vor Beschädigung. Der Safe war nämlich keineswegs leer. Man fand darin ein paar uralte, mittlerweile wertlose Wertschriften (eine Contradictio in adjecto, ich weiß) und – das Manuskript von Paris im 20. Jahrhundert. Es folgten noch Streitigkeiten unter den Mitgliedern der Familie Verne und zwischen zwei Verlagen, aber 1994, genau 134 Jahre nach seiner Abfassung und auch schon 34 Jahre nach der Zukunft, in der Jules Verne ihn spielen lässt, wurde der Text dann endlich der Öffentlichkeit zugänglich.

Für einen Roman ist die Geschichte äußerst handlungsarm. Wir verfolgen ungefähr ein Jahr lang den zu Beginn 15 Jahre alten Michel Dufrénoy, der gerade als nationaler Preisträger für ein auf Latein verfasstes Gedicht in Vergil’schem Stil geehrt wird. Dieser Michel hier (der mit Vernes Sohn nichts zu tun hat) ist zwar wirklich ein Poet, aber den Preis zu gewinnen, war relativ einfach. Das Paris der 1960er, wie es sich Jules Verne vorstellte, hat mit den Künsten nichts mehr am Hut. Der Sinn praktisch aller Leute ist auf Handel, Gewinn und Technik eingestellt. Wir erleben so, wie der sensible Poet Michel, trotz der Tatsache, dass er einige Freunde zu gewinnen vermag, an dieser kalten Welt zu Grunde geht. (Jules Verne nimmt diese Metapher beim Wort: Michel stirbt in einem extrem kalten Winter, weil er keine Bleibe mehr hat – denn den Job hat er verloren, ohne Job hat er kein Geld um Miete zu bezahlen …) Das ganze Jahr, das wir Michel verfolgen, ist angefüllt mit Gesprächen mit Freunden und Verwandten, mit hilfreichen und freundlichen Menschen und mit kalten, fast bösartigen. Verne verbringt seine Zeit damit, das Paris des Jahres 1960 vorzustellen statt eine Handlung zu entwickeln.

Wer Abenteuer sucht, wird hier wohl nur von Langeweile heimgesucht werden. Dennoch hat der Roman seine Meriten. Da ist für alle Historiker:innen der Science Fiction die Art, wie Verne wunderschön das Diktum von Stanisław Lem erfüllt, wonach die meisten Science Fiction-Autor:innen in ihren Texten im Grunde genommen nur die Verhältnisse der Gegenwart nähmen und ins Große transponierten. Keine der von Verne im Paris des 20. Jahrhunderts angesiedelten Maschinen, weder das mit Gas betriebene Taxi noch die mit Luftdruck betriebenen Züge verwenden eine Technik, die zu Vernes Zeiten unbekannt gewesen wäre. So wirkt sein Paris auf uns heute oft wie eine Steam Punk-Version der Stadt.

Noch während der Lektüre des Romans ist mir im Internet ein Artikel unter die Augen gekommen, nach dem sich US-amerikanische Colleges beklagen, dass in den letzten Jahren die Einschreibung für Fächer aus dem Bereich der Humanities um rund 30 % zurück gegangen seien. Verne hat diese Entwicklung offenbar geahnt, wenn er sie auch beschleunigt dargestellt hat und schon im 19. Jahrhundert einsetzen ließ. Aber dass ein Kapitalismus in Form eines Manchester-Liberalismus, wie er damals einsetzte und gerade wieder modern ist, keinen Wert auf die brotlosen Künste legt, lag selbst für ihn, der ansonsten in seinen Romanen die Technik so verehrte, auf der Hand. Und dass diese Entwicklung für die Menschheit als Ganzes schlecht ist, ihre Menschlichkeit zu Grunde gehen lässt, stellt er in diesem frühen Roman ganz klar dar.

Daneben finden wir in Vernes 21. Jahrhundert auch Aha-Effekte, die uns schmunzeln lassen. Die moderne Musik zum Beispiel sieht nach Verne so aus, dass der Pianist irgendwie mit den Fäusten, Ellbogen und Armen auf den Tasten hämmert, ja auch schon mal mit dem Hinterteil auf der Tastatur herum hopst. Wir sind unterdessen alle so weit, dass wir das schon mal – nicht als Sarkasmus gemeint – auf der Bühne oder in einem You Tube-Filmchen gesehen haben. Ob es, wie Verne allen Ernstes behauptet, aber die Schuld Wagner ist, dass sich die Musik so entwickelt hat, soll die Musikwissenschaft entscheiden. Verne war Anhänger Offenbachs und erklärter Gegner Wagners.

Last but not least beschäftigt sich Jules Verne in diesem Roman ausführlich mit der Literatur. Nachdem der junge Michel als Preis für sein Gedicht ein Buch erhalten hat, das sich als technisches Fachbuch entpuppte, geht er in eine Buchhandlung, um sich ein ‚richtiges‘, will sagen: literarisches Buch zu kaufen. Aber: Fehlanzeige. Die ganze riesige Buchhandlung ist vollgestopft mit Büchern zu Technik und Naturwissenschaften. Die Namen der großen Autoren des 19. Jahrhunderts kennt keiner der Angestellten. In der Bibliothèque nationale, die er anschließend aufsucht, bietet sich ihm dasselbe Bild. Man hat alle Belletristik aus den Regalen entfernt. Nur privat, bei einem Onkel, der genau so wie er ein Ausgestoßener der Familie ist, findet er sie alle wieder. (Und das gibt Verne die schöne Gelegenheit, sich, mit ein paar rezensierenden Worten zu jedem Autor, bei seinem Verleger Hetzel einzuschmeicheln, indem er loben und tadeln lässt, was dieser lobt und tadelt. Hony soi qui mal y pense.)

Als Roman also wenig brauchbar, da hatte der Verleger Hetzel Recht. Die Handlung ist praktisch inexistent und interessant höchstens, weil es sich hier um die meines Wissens einzige Dystopie aus der Feder Vernes handelt. Aber, im Rückblick auf das Jahr 1960, ist doch verblüffend, wie viele Entwicklungen der junge Jules Verne vorausgeahnt (oder sagen wir besser: intuitiv aus den vorhandenen Daten extrapoliert) hat. Insofern also bereue ich meine Lektüre nicht.

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