Inspektor Alan Grant, der ansonsten in den meisten Kriminalromanen von Josephine Tey als Ermittler auftritt, erhält in diesem Roman nur eine Art Gastauftritt – was allerdings offenbar genügt, dass The Franchise Affair in vielen Auflistungen als Alan Grant-Roman figuriert. Tatsächlich erscheint der Inspektor nur zu Beginn, als er die beiden verdächtigten Frauen in ihrem Landhaus aufsucht, um sie zu befragen. (Das Landhaus, nebenbei, nennt sich, warum auch immer, The Franchise, die Geschichte hat also nichts mit irgendwelchen Fast Food-Ketten zu tun.) Später wird er noch ein paar Mal erwähnt und bei der Gerichtsverhandlung hat er nochmals einen stummen Auftritt.
Schauen wir uns kurz das Setting dieses Kriminalromans an, das zunächst an einen der vielen Cozy Crime-Romane der Zeit erinnert: Das Landhaus der beiden Frauen liegt ein wenig außerhalb der fiktiven Stadt Milford, die wir uns in der Nähe von London vorstellen müssen. Darin lebt ein gewisser Robert Blair, Senior-Partner in der Anwaltsfirma Blair, Hayward & Benner. Einen Hayward gibt es schon lange nicht mehr; der aktuelle Benner ist ein junger Mann, der sich mehr fürs Dichten interessiert als für juristische Probleme. (Die Anhäufung fiktiver Partner in den Namen englischer Anwaltskanzleien: Eine lange vor Tey schon in der Literatur anzutreffende komische Situation, über die sich, wenn ich mich recht erinnere, auch schon Dickens und Thackeray lustig gemacht haben.) Eines Tages wird Blair von den beiden Bewohnerinnen des Landhauses angerufen, er möchte doch sofort zu ihnen kommen. Die beiden sind Mutter und Tochter – die Mutter vielleicht 70 Jahre alt, die Tochter deren 40. Sie haben das Haus vor einiger Zeit geerbt und, da ansonsten mittellos, beschlossen, darin zu leben. Sie leben sehr zurückgezogen. Direkte Nachbarn sind keine da und auch in der Stadt kennt man sie kaum. Als Blair auf The Franchise eintrifft, findet er dort eben jenen Inspektor Grant vor. Er befragt die beiden Frauen, weil sie von einer 15-Jährigen beschuldigt worden sind, sie entführt, über mehrere Wochen in einer Dachkammer eingesperrt und noch dazu geschlagen zu haben.
The Franchise Affair kannte und kennt viele Anhänger:innen. Die Story beruht in ihren Grundzügen auf einer wahren Geschichte aus dem Jahr 1753, die die Autorin aus einer (nicht zu seinem dichterischen Werk zählenden) Zusammenfassung von Arthur Machen kannte, die dieser wiederum 1925 veröffentlicht hatte. Das erweist sich nun als verhängnisvoll, denn Machens Einstellung zur Sexualität pubertierender Frauen ist eine sehr seltsame, ja problematische – auch in seiner Fiktion. Heute liest man diesbezüglich sensibler und so werden – nicht zu Unrecht – Stimmen laut, die der Autorin vorwerfen, die junge Protagonistin unter einem männlich-toxischen Blick abzuwerten.
Hinzu kommt (dazu habe ich aber noch keine Stimmen gelesen), dass Anwälte wie Polizisten ihr Gegenüber nach banalen Äußerlichkeiten einschätzen (tiefblaue Augen weisen auf Verschlagenheit und krankhaftes sexuelles Begehren hin; Augen, die nicht auf gleicher Höhe im Gesicht stehen, auf den verbrecherischen Charakter ihres Trägers), als ob Gall und Lavater im Jahre 1948 (dem Erscheinungsjahr des Romans) nicht schon so langsam widerlegt wären. Neben Machismo also auch Rassismus.
Das ist nicht klein zu reden, aber es wird meiner Ansicht nach ausgeglichen durch etwas anderes. Wir haben oben von der Anzeige gegen die beiden praktisch allein lebenden Frauen gehört. Ihre sowieso schon ungemütliche Situation wird aber wahrhaft schlimm, als eine Boulevard-Zeitung von der Affäre Wind kriegt. In reißerischer Aufmachung – offiziell aber nur der Berichterstattung und der Aufklärung verpflichtet – wird in verschiedenen Artikeln gegen die beiden Frauen gehetzt. Wie sich zeigt: mit Erfolg. Zunächst kommen die Schaulustigen, die The Franchise einfach nur besichtigen wollen. Dann kommt der Mob, der sich schreiend und üble Wörter skandierend vor dem Tor und der Mauer versammelt. Dann werden in der Nacht Mauern und Tor mit Parolen beschmiert. Zum Schluss – die beiden Frauen sind gerade in London – wird das Haus angezündet.
Die Schilderung einer solchen Entwicklung finde ich erstaunlich. 1948 hätte man ja der Meinung sein können, solcher Gesinnungen gerade Herr geworden zu sein, bzw. sie im vornehmen England gar nie gekannt zu haben. Und nun wird – zugegeben in einem Krimi, in ‚leichterer‘ Literatur – sehr realistisch geschildert, wie der Fremdenhass in einer Kleinstadt eskaliert (denn die beiden Frauen sind für die Bewohner von Milford Fremde geblieben, auch wenn sie offenbar Engländerinnen sind). Es ist als hätte Josephine Tey ein Skript geschrieben für das, was heute an vielen Orten in Europa rund um Asylzentren stattfindet.
Ein Rezept zur Bekämpfung des Fremdenhasses liefert Tey übrigens nicht. Im Gegenteil: Die beiden betroffenen Frauen und ihr Anwalt weichen aus. Ich bin versucht zu sagen: Sie flüchten – nach Kanada.
Dennoch finde ich diese Schilderung erstaunlich und das macht, dass ich trotz aller Problematik eine Lektüre von The Franchise Affair empfehle. Eine aufmerksame Lektüre allerdings, die sich nicht nur auf den Kriminalfall konzentriert.
Gelesen in der Übersetzung von Manfred Allié, wie sie zuletzt 2021 im Zürcher Kampa Verlag erschienen ist. Vor mir liegt eine Lizenzausgabe der Büchergilde von 2024.