Jean-Yves Tadié: Marcel Proust I

Schwarze Tinte auf weißem Papier: Ausschnitt aus einer für die Kartonbox verwendeten Zeichnung der französischen Künstlerin Chritelle Téa (geb. 1988): Le Palais Garnier, opéra national de Paris, 17.X.2018. Encre de Chine sur papier, 50 x 65 cm. Privatsammlung. Ganz links eine altmodische Straßenlaterne, rechts das Dach des Gebäudes.

Jean-Yves Tadié ist der Doyen der französischen Proust-Forschung, und die vorliegende Biografie zu Marcel Proust gilt nach wie vor als Standardwerk. Sie ist mit rund 1400 Taschenbuch-Seiten sehr umfangreich, weshalb sie denn auch von Gallimard für die Collection Folio auf zwei Bände aufgeteilt wurde, mit den Nummern 3213 und 3214. Erstmals erschien sie 1996, vor mir liegt die überarbeitete Version von 2022.

In seiner Biografie räumt Tadié implizit oder explizit mit dem einen oder anderen Vorurteil auf, die das Leben und Arbeiten Marcel Prousts betreffen. So haben wir zum Beispiel doch fast alle (auch ich), wenn wir über Proust sprechen, im Hinterkopf das Bild eines jungen Mannes, der chronisch krank und geschwächt in seinem Bett liegt, die Nacht zum Tag macht und fieberhaft (im eigentlichen Sinn des Worts) an der Suche nach der verlorenen Zeit schreibt. Nun, diesen Proust gab es. Aber das ist nicht der ganze Proust sondern nur der in seinen letzten Jahren.

Der junge Proust, der des 19. Jahrhunderts, wenn wir so wollen, war ein ganz anderer. Immer wieder erzählt uns Tadié von Reisen, die Proust unternommen hat, allein, mit Freunden oder mit seiner Mutter. Er besucht im Zeitraum, den Band I der Biografie abdeckt (und das ist ziemlich genau der Proust des 19. Jahrhunderts) nicht nur verschiedene Städte in Frankreich sondern auch Deutschland (wo seine Mutter herstammte), die Schweiz, jene Gegend am Genfersee, wo sich Mme de Staël aufhielt oder Amsterdam, wo er Kunstmuseen besucht.

Ungefähr mit dem Einsetzen der Pubertät setzen auch Prousts Asthma-Anfälle ein. Es scheint sich bei ihm um eine Pollenallergie zu handeln, denn seine Anfälle beginnen immer draußen. Das hindert ihn aber nicht, dennoch die Parks von Paris zu besuchen – Mund und Nase in einen dicken Schal eingewickelt. Außerdem setzt er seine Krankheit auch schlau für andere Zwecke ein. Sein Vater hätte ihn gern im diplomatischen Dienst gesehen. Proust gibt zunächst scheinbar nach und beginnt ein Studium der Politikwissenschaften, dann eines der Rechte. Schließlich aber sattelt er um und studiert Philosophie. (Bei einem Kantianer, nebenbei, weshalb er auch mit seinem angeheirateten Cousin Bergson selbst in der Philosophie wenig Berührungspunkte kennt.) Er will nicht in den diplomatischen Dienst eintreten, beruhigt aber seinen Vater, der ihn nicht ohne Stellung sehen will, damit, dass er eine Stelle als dritter Sekretär an einer Bibliothek annimmt. Die Stelle war unbezahlt, was aber damals durchaus üblich war, wenn man frisch in den Staatsdienst eintreten wollte. Proust aber ließ sich gleich von Beginn krankheitshalber dispensieren, zunächst wochen- dann monats- und jahresweise – bis er schließlich aus dem Dienst entfernt wurde. Ähnlich beim Militär. Proust absolvierte sehr wohl das französische Gegenstück zum preußischen Ein-Jahr-Freiwilligen-Dienst. Als es aber darum ging, die Ausbildung zum Offizier zu absolvieren, wendete er wieder den gleichen Trick an wie bei seiner Stellung als Sekretär. Sein Freiwilligen-Jahr hat er aber offenbar nicht ungern absolviert.

Was schließlich Prousts Intimleben betrifft, geht Tadié davon aus, dass Proust ursprünglich durchaus Kontakt zu weiblichen Wesen suchte und erst in den späten Jünglingsjahren seine Homosexualität entdeckte. Allerdings meint Tadié, dass Prousts Sexualleben größtenteils, wenn nicht gar ausschließlich, in – Masturbation bestanden habe. Das erklärt auch den berühmten Brief Prousts an seinen Großvater, in dem er ihn um eine bestimmte Summe Geld bittet, damit er in ein Bordell gehen kann. Das hat ihm nämlich schon sein Vater zur Verfügung gestellt, um seinen Trieb auf ‚natürliche‘ Art zu befriedigen. Nur habe er, schreibt Proust, aus Nervosität im Vestibül des Bordells eine Vase umgeworfen. Die daraus resultierende nervliche Belastung habe es ihm dann unmöglich gemacht, den Akt zu vollziehen. Bezahlen musste er natürlich trotzdem, aber jetzt geht es ihm darum, dem väterlichen Wunsch doch noch nachzukommen.

Schon in dieser seiner ersten Lebenshälfte ist Proust durchaus literarisch tätig. Von seinen heute noch bekannten Werken ist es allerdings gerade mal der Jean Santeuil, an dem er arbeitet, vom Rest noch keine Spur. Er verkehrt aber in verschiedenen literarischen Salons von Paris, darunter auch in dem der Mathilde Bonaparte. Edmond de Goncourt lernt er noch persönlich kennen, auch wenn ihn dieser offenbar ignoriert. Anders ist es mit Edmonds Altersfreund Alphonse Daudet, den er über seine beiden Freunde, dessen Sohne Léon und Lucien, persönlich kennen lernt. Auch mit Anatole France kommt er in Kontakt, der seinen jungen Bewunderer denn auch protegiert, wenn er kann.

Was die Dreyfus-Affäre betrifft, betont Tadié, dass sich Proust nicht als Jude empfunden habe und wohl auch nicht als Christ, weshalb er sich ohne weiteres für Dreyfus und dann auch für Zola engagiert.

Ansonsten trifft Proust jede Menge Leute. Die meisten davon sollten auf die eine oder andere Weise wieder in der Suche nach der verlorenen Zeit auftauchen, nicht nur der diesbezüglich wohl berühmteste Dandy seiner Epoche, Robert de Montesquiou. Diesen Spuren geht Tadié in dieser Biografie minutiös nach. Das bedeutet nicht, dass er nun Prousts Meisterwerk zum Schlüsselroman degradieren würde. Es handelt sich eher um eine Umsetzung von Goethes Diktum, dass alles Schreiben letztlich Autobiografie sei. So kommt es, dass Tadié diesen Tick, jene Kleidung, diese Geste, jenen Gesichtsausdruck, diese Art zu gehen, zu stehen oder sich zu setzen in verschiedenen Figuren Prousts wiederfindet – Prousts Figuren sind für Tadié nicht 1:1 realen Gestalten gleich zu setzen sondern aus verschiedenen Persönlichkeiten zusammen gebaut worden.

Und dabei sind wir zeitlich noch gar nicht auf Prousts Großroman gestoßen. Selbst der unmittelbare Anlass zum Roman, der Kritiker und Essayist Sainte-Beuve, ist noch nicht in Prousts literarischem Horizont angekommen.

Band I von Tadiés Proust-Biografie ist in seinem dichten Informationsgehalt nur zu empfehlen. Nicht nur als eigentliche Lektüre sondern auch als Nachschlagewerk. Dazu trägt der umfangreiche Index von Personen und Werken Prousts nicht unbeträchtlich bei. Das Buch ist (in einem Band von rund 1200 Seiten) auch auf Deutsch erhältlich.

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