New Wave wird eine Bewegung genannt, die sich – ungefähr ab 1965 und bis ca. 1980 – daran machte, das Genre Science Fiction auf neue Grundlagen zu stellen. Ihre Vertreter:innen waren nicht, oder bestenfalls nur locker, organisiert, weshalb man je nach Quelle verschiedene Autor:innen dazu gerechnet findet: verhältnismäßig viele Briten, der Rest meist US-amerikanischer Herkunft (darunter zwei Frauen, Ursula K. Le Guin und James Tiptree jr.). New Wave ist ein Phänomen ausschließlich der englischsprachigen Science Fiction. Mit der gleichnamigen Bewegung der Filmgeschichte hat unsere New Wave hier nichts zu tun.
Die Erneuerung der Science Fiction sollte in zweierlei Hinsicht geschehen:
Thematisch wollte man weg von Weltraumschlachten, weg vom Schema »Superheld bekämpft Superschurken, geht beinahe drauf, aber siegt zum Schluss dann gerade noch«. Man bemühte sich nun um andere Plots, um differenziertere Charaktere auch. Ebenfalls begann der soziale und ökonomische Hintergrund der futuristischen Welt Gestalt anzunehmen, nachdem die bisherigen SF-Helden (es waren meistens Männer) ja diesbezüglich in einem recht luftleeren Raum agiert hatten. (Man sieht das recht deutlich noch bei den Folgen der ersten Star Trek Serie, von 1966-1969, die diesbezüglich eindeutig nach altem Muster gestrickt wurden und wo kaum ein Wort fällt dazu, wie Politik oder Ökonomie im 23. Jahrhundert auf der Erde funktionieren, außer dass sich jetzt an Bord der Entreprise alle ganz fest lieb haben.)
Viele der in der New Wave verorteten Autor:innen verfassten auch Bücher in anderen Genres – und zwar nicht nur in der nahe verwandten Fantasy. Sie schrieben auch ‚richtige‘ Belletristik, welche, die im elitärsten Feuilleton besprochen werden konnte. Die in der elitären Literatur verwendeten literarischen Techniken fanden entsprechend Einzug in die Science Fiction: Nun wird auch hier Montage-Technik oder Stream of Consciousness angewendet, um nur die wichtigsten Neuerungen zu nennen. Insofern ist die New Wave zwar im großen Literarischen gesehen nicht ganz so neu, aber es verschwammen nun die Grenzen nicht nur zwischen Science Fiction und Fantasy sondern ebenfalls die zwischen ‚richtiger‘ bzw. ‚seriöser‘ Literatur und früher dem Schund zugerechneter ‚Pulp Fiction‘.
Delanys frühe Romane stehen ganz in der Tradition der New Wave und die vorliegende Geschichte Nova ist ein gutes Exempel dafür. So versucht Delany, seine Welt mit sozialen und ökonomischen Faktoren anzureichern. Dabei bleibt er allerdings recht vage. Wir erfahren, dass der von der Menschheit im Jahr 3172 besiedelte Teil des Weltraums zwar riesig ist, aber dennoch von nur zwei Machtblöcken beherrscht wird. (Inwiefern der Kalte Krieg bei dieser Darstellung noch hinein spielte, vermag ich nicht zu entscheiden. Eine der herrschenden Familien heisst Red …) Die ausgeübte Macht ist eine ökonomische, weil jeder der beiden Teile von einer extrem reichen Familie beherrscht wird. Deren Macht basiert auf einem (fiktiven) Element namens Illyrion, das als Energiequelle für fast alles dient – vom Taschenrechner bis hin zu den mit Überlichtgeschwindigkeit reisenden Raumschiffen. Von diesem Illyrion existieren nur ein paar Kilogramm. Das reicht an und für sich, denn die aus ein paar Gramm gewonnene Energie genügt, um Raumschiffe jahrzehntelang zu betreiben. Das meiste Illyrion wurde bis anhing noch künstlich hergestellt. Darauf beruht die Macht des erdbasierten Reichs Drako bzw. der Familie Red. Andererseits ist in den äußersten Bezirken des besiedelten Alls auf ein paar Planeten, die um tote Sterne kreisen, das Element spurenförmig in natürlichen Vorkommen gefunden worden. Darauf beruht Reichtum und Macht der Familie Von Ray. Es ist noch nicht so lange her, dass sich die Plejaden, wie das Reich der Von Rays genannt wird, selbständig gemacht haben. Auf der anderen Seite zeigen sich nun erste Tendenzen, dass die äußere Kolonien genannten Gebiete mit Illyrion-Vorkommen sich ihrerseits emanzipieren werden. Im Übrigen bleibt Delany aber recht schwammig. Wir erfahren ein bisschen über den Alltag der ganz Reichen. Wie aber zum Beispiel Drako und die Plejaden genau politisch organisiert sind, wird nicht berichtet.
Dafür erfahren wir, dass den Menschen im 32. Jahrhundert Verbindungsbuchsen in den Körper implantiert werden. Damit können sie sich direkt mit jeder Art von Maschine verbinden, sei es der Rasenmäher auf dem herrschaftlichen Grundstück, sei es die Rechenmaschine der Buchhaltung, sei es die Steueranlage eines Raumschiffs. Menschen, die so ein Raumschiff zu steuern verstehen, heißen Kybernauten. (Delany wurde hier zum Ahnherrn der späteren Cyborgs und damit des Cyber Punk). Im Roman wird die Ansicht vertreten, dass diese unmittelbare Verbindung zur Arbeit, die Entfremdung aufhebe, die ihr bisher anhaftete. Will Delany uns andeuten, dass der ansonsten so gelehrte Katin (zu ihm unten mehr), der das referiert, tatsächlich den Ursprung der Theorie der Entfremdung bei Karl Marx nicht kennt, oder kennt ihn Delany selber nicht? Will Delany es eventuell mit dem üblicherweise extrem kommunismusfeindlichen US-amerikanischen Publikum nicht verderben? Ich weiß es nicht, aber Marx’ Name fällt nicht.
Literarisch hält sich Delany in diesem Roman mit Neuerungen zurück. Wir finden einzig zwei Rückblenden, in denen er uns aus Kindheit und Jugend zweier seiner Protagonisten erzählt – ohne sie, wie sonst in der Trivialliteratur üblich, von einem Erzähler berichten zu lassen. Der eine, über den wir so mehr erfahren, ist Lorq Von Ray, der wichtigste Protagonist, was den reinen Plot betrifft. Ihm wird für seine Kindheit und Jugend das ganze, nicht kurze, dritte Kapitel spendiert. Den anderen, von dem wir mehr über sein bisheriges Leben erfahren, treffen wir weiter unten noch.
Die Geschichte dreht um die persönliche Rivalität der jüngsten Sprösslinge der beiden Herrscherfamilien. Sie ist spannend und sie wird gut erzählt. Aber nicht das ist es, was diesen Roman beachtenswert macht. Aufs reine Skelett der Handlung reduziert, geht es darum, dass Lorq Von Ray herausgefunden hat, dass im Inneren einer Nova riesige Mengen an Illyrium existieren. Nun will er mit seinem Raumfrachter in so eine Nova eindringen und gleich sieben Tonnen ‚ernten‘. Das würde das Ende der Welt bedeuten, so, wie sie aktuell ökonomisch organisiert ist. Deshalb verfügt sein Gegner, Prince Red (Prince ist offenbar sein Vorname), über durchaus handfeste Gründe, Lorq ausschalten zu wollen. Dass er aus Kinderzeiten auch noch einen ganz persönlichen Hass auf ihn hat, verstärkt die Gegnerschaft aber ins Riesige.
Dieser Plot als solcher ist aber nicht alles, ist meiner Ansicht nach sogar sekundär. In bester literarischer Manier stülpt der damals 25-jährige Delany dem Plot metafiktionale Ebenen über. Da er vieles recht vage hält, kann man auch viele solcher Metaebenen finden. Das fängt an mit den Genres bzw. Subgenres, zu denen der Roman gerechnet werden kann. Auf Grund des darin vorkommenden riesigen von der Menschheit besiedelten Raums kann man durchaus von einer klassischen ‚Space Opera‘ sprechen. Es ist aber auch ein klassischer Abenteuerroman, in der der Held (Lorq) eine Quest zu erfüllen hat. Dafür sammelt er sechs Heimat- und Arbeitslose als Kybernauten ein. Wie wenn dies nicht schon genügend wäre, um auf die Argonautensage zu deuten, auf Jasons Jagd nach dem Goldenen Vlies, sind auch noch zwei der sechs Kybernauten Brüder (Zwillinge), die Lynkeos und Idas heißen. Allerdings spielt Delany dann auch schon wieder mit diesem Motiv, indem er die beiden Brüder erzählen lässt, dass sie eigentlich Drillinge sind und der Dritte, der den völlig gewöhnlichen Namen Sebastian trägt und nie persönlich auftritt, in einer Illyrium-Mine arbeitet. Von der Argonautensage ist es dann nicht mehr allzu weit zur Sage um die Suche nach dem Gral, die sogar explizit erwähnt wird. Nächste Anspielung: Unter den weiteren ad hoc rekrutierten Kybernauten befindet sich auch eine junge Frau. Auf dem Weg zur Nova liest sie Kapitän Lorq die Zukunft aus ihren Tarotkarten. Tarot ist im 32. Jahrhundert eine anerkannte Wissenschaft. Beim Versuch, den Grund dafür zu erklären, wird es sogar erwähnt, aber wem käme es nicht auch so in den Sinn – das chinesische I Ging, das eine ähnliche Rolle im drei Jahre früher erschienenen Roman The Man in the High Castle Philip K. Dicks einnimmt? Dann eine hochliterarische Anspielung, die gefunden wurde: Wohl auf Grund des Hasses, der zwischen Lorq und Prince Red herrscht, wie auch der tödlichen Jagd, die gegen Ende stattfindet, finden sich Interpretationen, die bei Delanys Roman an Moby-Dick von Herman Melville denken. Allerdings ist hier die Situation ein wenig komplexer, es gibt keine 1:1-Entsprechung. Lorq wurde in früher Jugend von Prince Red schwer verwundet und trägt seitdem eine riesige, ihn verunstaltende Narbe im Gesicht – Ahabs fehlendes Bein. Andererseits ist es Prince Red, dem seit Geburt eine Gliedmaße fehlt – er ist ohne linken Arm zur Welt gekommen. Auch ist es am Ende der Geschichte Lorq, der vor Prince Red zu fliehen scheint, ihn dann aber zu töten vermag. Wir haben also, wenn schon, einen doppelten Moby-Dick und einen doppelten Ahab vor uns.
Last but not least kommen wir nun zu den beiden wichtigsten Kybernauten – die, denen Delany am meisten Platz einräumt, fast mehr noch wie Lorq Von Ray. Da ist Maus, mit dem die Geschichte auch anfängt. Er ist der andere, dem Delany einen längeren Rückblick auf sein Leben spendiert. (Er ist im Erzählfluss sogar der erste, denn seine Kindheit wird noch vor der Lorqs erzählt.) Von kleiner Statur, ein Vagabund, der davon lebt, dass er in irgendwelchen Kaschemmen sein Instrument spielt, das gleichzeitig holographische Bilder, Geräusche und Gerüche bilden kann und auf dem er ein Meister ist. Auf der Erde geboren, wohl ein Romani, wurde er von seiner Familie ausgesetzt und hat sich seither alleine durchgeschlagen. Dass er sich Buchsen implantieren ließ, um als Kybernaut zu arbeiten, ist gar noch nicht so lange her, denn die Romani verweigerten sich jeder Form von solcher mit Maschinenanschluss getätigten Arbeit. Die Frau, an die er sich als Mutter erinnert, pflegte Tarotkarten zu legen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Maus ist dann auch der einzige im Roman, der nicht an die Wissenschaftlichkeit des Kartenlegens glaubt. Kybernauten arbeiten immer in Zweierteams, und so kommt es, dass Lorq unserem Maus als Partner den bei der Rekrutierung zufällig neben ihm stehenden Katin zuordnet. Katin ist ungefähr zwei Meter groß und der Intellektuelle der Geschichte. Er nervt seine Kameraden hin und wieder mit seinem Tick, alles erklären zu müssen – ist aber für uns Lesende, die wir ja das 32. Jahrhundert nicht kennen, der unerlässliche Erklärbär. Eigentlich fühlt er sich als Schriftsteller und will seit langem schon einen Roman schreiben. Das Schreiben von Romanen ist eine in seiner Zeit ausgestorbene Kunst. Aber nicht das hält ihn davon ab, sondern der Umstand, dass er nicht aufhören kann, Material zu sammeln, Notizen zu machen, und deshalb nie dazu kommt, sein Material zu organisieren. Dafür kann er, neben seiner Funktion als Erklärbär, über die Geschichte der Geschichtsschreibung referieren und behaupten, dass aus der Sicht des 32. Jahrhunderts nicht nur Herodot und Thukydides sondern auch Spengler und Toynbee, die zu ihrer Zeit als einen völlig unterschiedlichen Ansatz vertretend galten, im Grunde genommen die Geschichtsschreibung genau gleich gehandhabt hätten. (Leider erfahren wir dann aber nicht, wie Geschichtsschreibung im 32. Jahrhundert geht.) Während aber Lorq am Ende ganz in die Nova blickt und sein Gehirn dabei bleibenden Schaden nimmt, ist es der Intellektuelle, der Historiker Katin, der sie erst im Nachhinein(!) betrachtet, dadurch aber zum Schriftsteller geworden ist. So haben wir ihn und Maus, der den Roman schon beginnen durfte, die den Roman beenden. Auch Maus hat dank der Reise viele Dinge erfahren, von denen er auf seinem Instrument erzählen will. Weil sie so verwandte Seelen sind, schlägt er Katin vor, dass sie ja eine Weile zusammen bleiben können, weiterhin gemeinsam als Kybernauten arbeiten. Also haben wir hier so ganz nebenbei auch einen Künstlerroman gefunden. In den Beiden steckt auch noch eine weitere, für dieses Mal die letzte literarische Anspielung. Der kleine Maus und der große Katin, zufällig zusammen gewürfelt, die aber nun zusammen bleiben wollen – das kennen wir woher. Schon im Namen Maus steckt ja jener andere kleine Held, der sich mit einem anderen, riesigen zusammentun. Ich meine natürlich Fritz Leiber und seine Abenteuer von Fafhrd und dem Grauen Mausling.
Sicherlich, wir müssen einige Unklarheiten und Unschärfen dem jugendlichen Alter des Autors (er zählte beim Schreiben des Romans gerade mal 24, 25 Jahre) zu Gute halten. Ein bisschen vieles wird nur andeutungsweise geliefert, fafür wird auf anderes unnötig deutlich mit dem Zaunpfahl gewiesen. Als Resulat finden wir hier für viele etwas – für den Literaturarchäologen genau so wie für den angehenden Geschichtsphilosophen. Last but not least: eine spannende Geschichte, wie man sie sich von Science Fiction wünscht. Und so zählen Roman wie Autor heute (zu Recht!) als Klassiker des Genres.
Samuel R. Delany: Nova. Aus dem amerikanischen Englisch neu übersetzt von Jakob Schmidt. Wittenberge: Carcosa Verlag, 2024. (Dazu findet sich seitens des Verlags noch folgender Zusatz: Bei Carcosa erscheinen, als Auftakt einer von Hannes Riffel betreuten Werkausgabe, Neuübersetzungen seiner frühen Meisterwerke.)