Johann Gottfried Herder: Briefe. Neunter Band. Nachträge und Ergänzungen • 1763-1803

Auf zwei Zeilen, etwas rechts von der Mitte, dunkelbraun auf beige, stehen die Worte: "JOHANN GOTTFRIED // HERDER". - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Editionen von Briefen berühmter Persönlichkeiten aus früherer Zeit leiden fast immer am selben Problem: Sie ziehen sich über Jahre und sind – fast per definitionem – unvollständig. Praktisch jedes Mal nämlich werden es die Herausgebenden solcher Briefwechsel erleben, dass neue Handschriften gefunden werden, während die Edition läuft. Oder es tauchen verschollene Dokumente wieder auf, von denen man allenfalls aus früheren Editionen Kenntnis hatte, die aber seither verschwunden blieben, oft, weil sie den Besitz gewechselt hatten. Wo sie schon einmal herausgegeben worden waren, mussten sich neue Editionen auf diese alten stützen. Die aber waren nicht immer zuverlässig; oft war das Erkenntnisinteresse der früheren Herausgeberschaft gar nicht auf vollständigen Abdruck des Originals gerichtet (etwas, das zum Beispiel auch die ‚Teaser‘ einer Auktionsfirma auszeichnet) und referierte allenfalls weggelassene Teile. Bestenfalls, manchmal wurde nicht einmal angegeben, dass und wo man Stellen ausgelassen hatte. Nicht immer waren es Institutionen der öffentlichen Hand, in denen die Autographen landeten – der Markt ist voller privater Sammler und Sammlerinnen, die oft mehr Geld zur Verfügung haben als staatliche Institutionen. Hierin ähnelt die Situation der des Kunsthandels. Vor allem in Deutschland kommt erschwerend hinzu, dass viele Dokumente, die eigentlich schon in öffentlichem Besitz waren, im Verlauf des Zweiten Weltkriegs verloren gingen. Vor allem die ehemals Preußische Staatsbibliothek in Berlin war diesbezüglich vom Pech verfolgt. Oft genug war es gerade der Versuch, wichtige Dokumente zu retten, der zu deren Untergang führte, indem sie dann am neuen, vermeintlich sichereren Aufenthaltsort zerstört wurden, oder nach dem Krieg schlicht niemand mehr da war, der sich um sie kümmerte bzw. überhaupt noch wusste, wo sie hingebracht worden waren.

Was die vorliegende Ausgabe von Herders Briefen betrifft, war die Lage noch einmal speziell. Die Herausgeber wussten zwar, dass eine große Anzahl der Herderschen Briefe 1941 nach Kloster Grüssau (d.i. Krzeszów in Polen) ausgelagert worden waren und bis vor kurz vor dem Start der Briefausgabe als Kriegsverlust galten, dann zwar wieder aufgefunden wurden und sich nun, zur Zeit der Ausgabe [Band 1 erschien 1977 – P.H.], in der Jagiellonen-Bibliothek der Universität Kraków befanden. Aber das Konvolut wurde erst 1982 freigegeben – zu spät für die chronologisch geordneten Hauptbände. Somit kam es bei den Herder-Briefen nicht nur zum üblichen Nachtragsband mit ein paar vermischten Funden: Auf über 800 Seiten wurden über 500 Briefe (noch einmal) abgedruckt. Denn die Herausgeber hatten beschlossen, nicht nur Änderungen in Band 10 zu hinterlegen, sondern jeweils den gesamten Brief nochmals wiederzugeben. Das erleichtert zwar die Lektüre der einzelnen Briefe, will man aber die Änderungen nachvollziehen, wird man mit zwei relativ dicken und großen Büchern gleichzeitig jonglieren müssen.

Lohnte sich der Aufwand des Nachtragsbands überhaupt? Ich behaupte: unterm Strich schon. Vor allem zwei Briefwechsel werden nun in ihrer Ausführlichkeit dargebracht: derjenige mit dem Freund Heyne in Göttingen, wo wir ein paar Details mehr zu den seltsamen Berufungsverfahren nachlesen können, in die Herder an der dortigen Universität verwickelt war, und auch die Freundschaft der beiden besser nachvollziehen können. Auch Herders Briefe aus Italien an seine Frau Caroline sind nun vollständig wiedergegeben. Der frühere Herausgeber, auf den sich diese Ausgabe bisher stützen musste, hat da vor allem einige giftige Bemerkungen Herders über Goethe ohne weiteren Hinweis weggelassen. (Es geht vor allem um Herders Bekleidung: Goethe, so seine – Herders –, Darstellung, habe ihm auf Nachfrage mitgeteilt, dass wenige und einfache Bekleidung genüge, aber Goethe habe sich denn auch vor allem unter dem armen Malervolk herumgetrieben. Herder wird dann in einem späteren Brief an Caroline zugeben, dass die Herstellung eines Fracks und eines Präsentiergewands – der Frack war zur Goethe-Zeit Alltagsbekleidung! – in Italien höchstens ein Drittel von dem gekostet habe, was er dafür in Weimar zu bezahlen gehabt hätte …)

Last but not least: Wirklich neu in diesem Band sind die zwei oder drei Briefe, die Herder an einen Großmeister der Freimaurer schickt. Hat er noch ein paar Jahre früher seinem Ekel an der Freimaurerei [Herder benutzt das damalige ‚Geheimzeichen‘ der Freimaurer, ein auf einer Längsseite liegendes Rechteck] Ausdruck gegeben, so diskutiert er im Jahr 1800 mit dem späteren Hamburger Großmeister Friedrich Ludwig Schröder hingebungsvoll über dessen Ritual-Reform – man spürt nichts vom früher so freimütig geäußerten Ekel an der Sache … Diese Briefe geben nebenbei für Nicht-Initiierte auch einen kleinen Einblick in freimaurerische Belange. (Schröders Ritual wird zum Teil noch heute befolgt – es ist also durchaus aktuell.)

Sehr disparater Lesestoff, natürlich, dieser neunte Band der Briefe Herders. Dennoch unerlässlich für alle, die die ersten neun besitzen.


Johann Gottfried Herder: Briefe. Neunter Band. Nachträge und Ergänzungen • 1763-1803. Bearbeitet von Günter Arnold. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1988.

[Was man so alles in diesen Büchern findet. Heute von einer Vorbesitzerin in meiner Ausgabe: ein so genannter Empfangsschein für eine Posteinzahlung in der Schweiz aus dem Jahr 1994. (Die blauen Formulare, in denen man den Betrag selber einsetzen konnte. Mit Stempel der Fraumünster-Post Zürich und dem Namen der einzahlenden Person. Das Buch hat offenbar zumindest eine Vorbesitzerin in der Schweiz gehabt …]

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