Ich gebe zu, dass ich Wollschläger bis anhin nur als Karl-May-Interpret/Biograf und als Schüler von Arno Schmidt rezipiert habe. Seine Musik (Wollschläger war ausgebildeter Organist und trat auch als solcher auf, wenn ich mich recht erinnere), seine Übersetzertätigkeit und sein eigentliches literarisches Werk sind bisher an mir vorbei gegangen. Obwohl es „technisch“ möglich gewesen wäre (der 1935 geborene Wollschläger verstarb 2007), habe ich ihn auch nie persönlich kennen gelernt.
Die Musik ist meine schwache Seite, und da kann ich keinem (und ganz sicher nicht Wollschläger oder gar dessen diesbezüglichem Mentor Adorno) weit folgen. Wollschläger als Übersetzer ging an mir vorbei, weil der meist aus dem Englischen übersetzte – bekannt sind die Übersetzungen von Poe oder Joyce, die ich beide im Original schon gelesen habe und kein Bedürfnis nach einer deutschen Version verspüre. Wollschlägers literarisches Werk schliesslich ging an mir vorbei, weil ich den starken Verdacht eines Epigonalismus hegte. Wollschläger war für mich (und zumindest dieses Vorurteil hat sich bestätigt) ein Vertreter jener Tradition, die nie so richtig zu einer Tradition geworden ist: der literarischen Moderne, die auch im Roman mit Wortassoziationen und -verformungen arbeitet, dem Stream of Consciousness, dem abrupten Perspektivwechsel, und deren bekannteste Vertreter eine Virginia Woolf sind, ein James Joyce, ein John Dos Passos und im Deutschen ein Arno Schmidt. Und nicht nur zur Woolf ist mein Verhältnis als Leser recht ambivalent: zu viel Kopf, zu viel Intellekt, zu viel gewolltes und deshalb nicht mehr spielerisches Sprachspiel sind für mich bei allen diesen Autoren meine Kritikpunkte. Literatur für Literaturwissenschafter, die sich diebisch freuen, wenn sie ein weiteres Symbol, eine weitere Verschiebung entziffern können. Oder es zumindest glauben.
Dieser Tradition sind die Herzgewächse in der Tat zuzuordnen. 1982 erschien der erste Band, vom für 1984 angekündigten zweiten ist nur ein Kapitel ausgeführt und 1987 separat veröffentlicht worden. Ein Fragment also in doppeltem Sinne.
Die Geschichte spielt in Bamberg. 1950 kehrt Felix Adams in seine Heimat zurück, aus der er zwischenzeitlich emigrierte. Die Herzgewächse sind dessen fingiertes Tagebuch und erstrecken sich über ein paar Monate des Jahres 1950, greifen von da aber zurück in Kindheit und Jugend Adams‘, ja in fernes Vorgeschichtliches. Obwohl oder gerade weil der Roman in der Adenauer-Zeit angesiedelt ist, handelt es sich dabei nicht um eine Auseinandersetzung mit dem Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit. Keine Ehen in Phillipsburg also, keine Tauben im Gras. (Dazu wäre der Roman ja auch runde 30 Jahre zu spät gekommen, sein Autor mindestens 15 Jahre zu jung.) Es ist eher, wie Wollschläger selber vorschlägt, die Geschichte eines psychischen Zerfalls. Es ist aber auch eine Auseinandersetzung mit literarischen und musikologischen Mythen. Adams reibt sich immer wieder an Thomas Mann, dessen Stil und dessen Werk – was ihn nicht daran hindert, selber einen dem Dr. Faustus entlehnten Teufelspakt einzugehen. Johann Sebastian Bach und Händel werden dem deutschen Sänger(un)wesen gegenüber gestellt. Die ganze Komposition des Romans ist musikalisch angelegt und spielt in den verschiedenen verwendeten Schriftgrössen und -auszeichnungen (auch) auf barocke Literatur und Musik an.
Auf der persönlichen Ebene Wollschlägers lassen sich natürlich ebenfalls viele Interpretationsanhalte finden. Das Verhältnis des Lehrers Adams zu seinem Schüler „W.“ spiegelt wohl Wollschlägers Verhältnis zu seinen beiden Lehrern Adorno und Schmidt. („Wiesengrund“ wird einmal erwähnt im Text; auf Arno Schmidt bin ich nicht gestossen.)
Wollschlägers lebenslange Beschäftigung mit Karl May, den er ja auch historisch-kritisch editierte, leuchtet gewaltig durch: Schon der erste Satz („Ussul – eines von den ersten Worten, die einmal die letzten sein werden […]“), eigentlich also sogar das erste Wort nimmt Karl May auf im Namen jenes fiktiven Völkerstamms aus Ardistan und Dschinnistan. Auch ist Adams in Aden geboren, wo Karl May jenen Zusammenbruch erlebte, der bis heute als Bruch in dessen Werk interpretiert wird, und wonach May dann seinen „alten Adam“ im Meer versenkte. (Denn der „Fall Adams“ ist nicht nur die Krankheitsgeschichte und Karteikarte des Patienten Adams, wo das Schluss-S Teil des Namens und kein Genitiv ist – es ist eben auch ein Genitiv, in dem der alte Adam fällt, und dabei sicher nicht nur an den Mays gedacht wurde, sondern auch an den bekannteren der Genesis.) Bamberg, wo die Handlung spielt, war nicht nur Wohnort Wollschlägers, Bamberg war zu jener Zeit auch der Sitz des Karl-May-Verlags, den Arno Schmidt so unbarmherzig bekämpfte und dessen Mitarbeiter Wollschläger eine Zeitlang war.
Daneben „geschieht“ wenig, wie meist in den Romanen der Moderne. Wir erleben, wie Adams sich zusehends in sich selber zurückzieht. Sein Werk, zu dem diese Notizen ja nur einen Sub-Text darstellen sollen, vernachlässigt er.
Fazit: Der Roman liest sich recht flüssig. Wollschläger hat sich mit den künstlichen Reflexionen und Sprachspielereien erfreulich zurückgehalten, auch wenn z.B. die Verwendung des Doppelpunkt an Stelle eines normalen Punktes – und dann nicht nur mit Abstand nach-, sondern auch vorher (also wie im Französischen, nicht aber wie im Deutschen) bei ihm ebenso an der Tagesordnung ist, wie die Manier, ein Wort am Satzende nur mit seiner ersten Silbe anzudeuten, und, während der Leser es unter der Lektüre für sich beendet, mit dieser Silbe neu anzusetzen und ein ganz anderes Wort, einen ganz andern Satz zu bilden. Man mag den „intellektuellen Gedankenreichtum“ rühmen, wie es Jörg Drews in einem Kurzzitat des Klappentexts tut, oder man mag wünschen, Wollschläger hätte mehr erzählt und weniger gedacht, wie ich – eine Lektüre lohnt allemal, auch wenn Herzgewächse nun kein Text ist, der zur Allgemeinbildung gehörte.
Ein schöner unaufgeregter Kommentar zu einem leider nur Insidern bekannten Buch, das sich wohl in Laufe der nächsten Jahrzehnte zu einem der wichtigeren literarischen Erscheinungen des 20. Jahrhunderts etablieren wird. Bis dahin gehört es sicher nicht zur Allgemeinbildung. Auch Arno Schmidt gehört (noch) nicht dazu, wenn auch mancher Schüler mehr Spaß bei der Lektüre der „Gelehrtenrepublik“ empfinden dürfte als beim ewigen Fontane. Das sich der Roman „flüssig“ liest, kann ich eher nicht bestätigen, das liegt dann sicher auch an der Perspektive/Erwartung mit der man an dieses Buch geht. Wer umfangreiche Handlungsstränge liebt, sollte sich andere Lektüre suchen. Der Seitenspiegel ist ja nicht nur als Notenbild zu lesen, er reflektiert auch unterschiedliche Bewusstseinsebenen. Und in diese einzutauchen und aus diesen wieder zu entkommen ist, so finde ich, nicht immer leicht und macht ein Gutteil der Leseerfahrung dieses Romans aus. Mir hat die Lektüre einen bleibenden Eindruck hinterlassen.