Kann man Michel de Montaignes Essais so hintereinander weglesen, wie er sie veröffentlicht hat? Doch , halt – nein! So gestellt, ist die Frage sinnlos, denn mein Beispiel zeigt, dass man es kann. Die Frage sollte vielmehr lauten: Ist es zweckmäßiger, die Essais selektiv zu lesen, immer mal wieder den einen oder anderen hervorzusuchen, je nach Lust und Laune bzw. Thema, das einen beschäftigt? Oder ist es zweckmäßiger, alle Essais in einem Rutsch durchzulesen?
Denn dessen muss man sich bewusst sein, wenn man Montaigne zum ersten Mal in die Hand nimmt: Seine Essais sind in keiner Weise geordnet – weder unter sich, noch in sich. Will sagen: Es gibt keine Übergänge von einem Essai zum anderen; es gibt keinen Themenkreis, den er für eine Weile durchhalten würde. Selbst innerhalb eines Essais zeigt sich Montaigne als Meister der Digression: Er holt aus, schweift ab, reiht Anekdote an Anekdote und erweckt den Eindruck im fröhlichen Plaudern sein Thema vergessen zu haben. (Meistens hat er es nicht…) Jeder Essai hat einen Titel, aber der hat oft wenig zu bedeuten, wenig mit dem zu tun, worüber Montaigne dann im Essai tatsächlich plaudert. Wenn Essai L mit Über Heraklit und Demokrit betitelt ist, so darf es den Leser nicht verwundern, wenn die beiden alten griechischen Philosophen praktisch erst in den letzten paar Sätzen auftauchen. Dort teilt Montaigne uns mit, dass er Demokrit – den über die Menschen lachenden Philosophen – bei weitem Heraklit vorziehe – der ja bekanntlich über die Menschen nur weinte. (Womit uns Montaigne auch etwas über seine Einstellung zur Menschheit verrät.)
Seine Anekdoten nimmt Montaigne aus der Antike und aus der französischen Geschichte. Es sind auch Wanderanekdoten dabei – eine findet man (mit Zuschreibung an einen anderen kirchlichen Würdenträger) auch in den Kalendergeschichten Johann Peter Hebels wieder. Viele Geschichten beschreiben Situationen aus Bürgerkriegen – auch aus dem aktuellen, in den Frankreich zu Montaignes Zeit gerade verwickelt ist. Er zitiert oft und gerne – meist alte Lateiner (Latein die erste Sprache, die Montaigne als Kind gelernt hat, noch vor dem Französischen), ein paar alte Griechen, ein paar Italiener, zwei Kirchenväter. Während bei den Nennungen im Text Platon deutlich überwiegt, können wir in den Zitaten keine Präferenzen ausmachen: Ovid, Vergil, Petrarca, Catull, Seneca, Lukrez, Cicero, Livius, Ariost, Horaz, Martial, Plinius der Ältere, Augustinus von Hippo (immer aus seinem Gottesstaat!), Tibull, Catull, Sallust, Tertulian, Properz, Aulus Gellius, Juvenal, Dante, Anakreon, Quintilian, Terenz, Plautus, Lukan (auch einer, der einen Bürgerkrieg mitmachte und darüber berichtete!), Sueton – er kennt sie alle und zitiert sie in ihrer Originalsprache.
Man darf sich bei den Essais nicht allzu sehr auf die Überschriften der einzelnen Essais verlassen. Sucht man zum Beispiel Montaignes Ansichten über die Freundschaft, so tut man gut daran, mit einer Konkordanz nach Nennungen des Namens von Étienne de Boétie zu suchen, denn Essai XXVIII bringt nur einen bunten Strauss von Anekdoten, obwohl er den Titel Über die Freundschaft trägt. Montaignes persönliche Erfahrungen sind darin nicht enthalten.
Diese aber sind es, die – für mich zumindest – den einen oder anderen Essai immer mal wieder interessant machen. Montaigne ist ein vorsichtiger Mensch, der in allem sorgfältig die Mitte sucht – immer im Bewusstsein dessen, dass – was er gerade als gut für sich, als seine Mitte, empfindet – unter Umständen längerfristig betrachtet schlecht für ihn sein kann. Trotz Essai XX (Que philoſopher, c’eſt apprendre à mourir – Philosophieren heisst: sterben lernen) lernt man bei Montaigne nicht zu sterben. Vielleicht, weil er gar nicht philosophiert. (Einen philosophischen Anspruch erhebt er auch gar nicht.) Man lernt in den Essais allenfalls, ein bisschen bewusster zu leben. Selbst da muss gesagt werden: Obwohl viele seiner Essais moralischen Themen gewidmet sind, will Montaigne seine LeserInnen nicht belehren. Der moralinsaure Zeigefinger ist nicht das Ding des Skeptikers, der zumindest versucht, alles von allen Seiten anzuschauen und erst dann zu entscheiden. (Er warnt aber auch davor, nur zu zögern und mehr Informationen einzuholen und noch mehr Informationen. Obwohl er Aristoteles im ersten Band nie zitiert und auch sonst seinen Namen kaum zu kennen scheint, ist er doch der Mann des aristotelischen Mittelmasses in ethicis und überhaupt.)
Montaignes Technik ist an der des Platonischen Sokrates geschult. Er nimmt ein Ding, betrachtet es von möglichst allen Seiten und schreibt auf, was ihm an diesem Ding auffällt (bzw. in vielen Fällen: welche Geschichten ihm dazu einfallen oder er dazu gelesen hat). Ob es nun die Art ist, sich zu kleiden, ob es um die Ureinwohner im neu entdeckten Amerika geht, die der Sitte huldigen, ihre Feinde aufzuessen, um Cicero (den er, weniger nett umschrieben, als er es tut, für ein Großmaul hält – Montaigne ist kein Freund rhetorisch geschliffener Abhandlungen) oder den jüngeren Cato (den er gegen den Vorwurf verteidigt, sich aus Angst vor Caesars Schergen umgebracht zu haben): Er vertritt durchaus eine eigene Meinung, ist aber auch immer der Ansicht, dass alle Seiten in einem Disput gehört werden sollen, wenn es darum geht, richtige Entscheidungen zu treffen. Auch einem Ausgleich zwischen geistiger und körperlicher Beschäftigung redet er das Wort. (Immerhin lebte er in einer Zeit des Bürgerkriegs, wo Männer in einer halbwegs akzeptablen Stellung – so wie er – jederzeit damit rechnen mussten, eingezogen oder sonst wie in den Krieg verwickelt zu werden. Übung an den Waffen und körperliche Ertüchtigung waren für Leute seines Standes überlebensnotwendige Tätigkeiten. Nach allem, was wir wissen, hat Montaigne seine eigenen Ratschläge für einen tüchtigen Kriegsmann durchaus in die Tat umgesetzt. Er wusste, wovon er hier sprach.)
Bei aller Skepsis gegenüber Hergebrachtem ist Montaigne kein Revolutionär, sondern sogar gläubiger Katholik. Kein verbohrter allerdings – in vieler Hinsicht klingt er schon fast wie ein Protestant, so, wenn er beim Beten Innerlichkeit einfordert und nicht selbstsüchtiges Bitten darum, dass einem Gott eine persönlichen Gefallen täte; oder wenn er die Meinung vertritt, dass im Grunde genommen das „Vater unser“ als Gebet völlig ausreichen würde. Mehr und anderes soll allenfalls den Priestern vorbehalten bleiben.
Daneben gibt es bei Montaigne eben immer auch das Persönliche. Das Persönliche bei Montaigne, das dann auch das Persönliche im Leser selber kitzelt, wenn er Situationen anspricht, in denen dieser sich wieder erkennen kann. (Das Persönliche in Montaigne ist durchaus identisch mit dem Persönlichen in jedermann – oder kann es zumindest sein.) Sehr lesenswert fand ich persönlich so z.B. Essai LVII (Über das Alter), wo sich Montaigne einerseits darüber auslässt, welches das richtige Alter wofür wäre, andererseits sich speziell über jenes Alter auslässt, das wir heute als Pensionierungsalter bezeichnen – den Rückzug ins Private nach der Tätigkeit in der Öffentlichkeit, mit der Schwierigkeit, in diesem Privaten nun eine sinnvolle Betätigung zu finden. (Nein, auch in diesem Essai lernen wir nicht sterben.)
Fazit: Ich denke, es spielt keine Rolle, ob Montaignes Essais am Stück gelesen werden, oder ob man von Zeit zu Zeit einen einzelnen liest. Wir finden in jedem Essai so oder so Gedanken eines intelligenten und belesenen Mannes, der sich trotz seines Wissens nicht besser dünkt als seine Leser und Leserinnen. Da dieser Mann aber in gewissem Sinne Egoist ist und immer nur darüber schreibt, wofür er sich selber interessiert, und nicht darüber, wovon er annimmt, dass es sein Publikum interessiere, ist es nur natürlich, dass der eine oder andere Essai (oder gar eine Mehrheit davon) für den jeweiligen Leser oder die jeweilige Leserin, im jeweiligen Moment, uninteressant ist. Das aber sollte man nicht Montaigne ankreiden – so wenig, wie man ihn auf einen Sockel stellen sollte. Er war ein (intelligenter!) Mensch und hat als (intelligenter!) Mensch geschrieben. Es sollte auch im 21. Jahrhundert als Zeichen von Intelligenz gelten, ihn zu lesen.