So ist dieses Buch kein wissenschaftliches Fachbuch, sondern eine – gelungene – Beschreibung des Lebens dieses Stammes, der zunehmend den Einflüssen der Zivilisation ausgeliefert ist und außerdem mit den Begehrlichkeiten der Holzindustrie oder des Bergbaus konfrontiert wird. Fischermann verbleibt auf der deskriptiven Ebene, er versucht keine Lösungen anzugeben (obschon er keinen Zweifel über die Rücksichtslosigkeit des wirtschaftlichen Expansionsstrebens im Amazonasgebiet aufkommen lässt). Sehr viel schwerer jedoch fällt ein grundsätzliches Urteil darüber, wie sich die Bewohner gegenüber der sich ausdehnenden Zivilisation verhalten sollen: Madarejúva selbst ist der Meinung, dass sich sein Volk mit den westlichen Gepflogenheiten vertraut machen sollte – schon deshalb, um die Recht seines Volkes besser durchsetzen zu können. Andererseits stellt sich die Frage, ob denn ein ursprüngliches Leben überhaupt noch möglich ist: Der Tenharim-Krieger weiß die technischen Errungenschaften durchaus zu schätzen, sieht sich (und sein Volk) aber vor die Frage gestellt, wie man das dafür notwendige Geld aufbringen könnte. So hat man eine Zeitlang die Transamazonica gesperrt und Wegzoll erhoben, was von der Regierung aber bekämpft wurde. Die Tenharim argumentieren, dass die Straße durch ihr Land und ohne ihre Zustimmung gebaut worden wäre und leiten daraus einen Rechtsanspruch ab.
Ein weiterer Streitpunkt ist jener nach dem Abbau der Bodenschätze bzw. nach einer Bewirtschaftung des Landes: Teile der Tenharim sind der Meinung, dass sie diese Aktivitäten selbst in die Hand nehmen sollten, andere wieder versuchen zur ursprünglichen Lebensweise zurückzukehren, einer Lebensweise, bei der sich die Frage nach Geld gar nicht stellt. Die Uneinigkeit darüber spaltet das Volk und man kann sich nur schwer vorstellen, dass ein solches „zurück“ noch möglich wäre. Einig kann man sich bestenfalls weitgehend darüber sein, dass der Raubbau am Amazonasurwald gestoppt werden sollte und dass den dort lebenden Völkern nach Möglichkeit die Freiheit zugestanden wird, sich für das eine oder andere Leben zu entscheiden. Wobei selbst das immer ein wenig prekär ist: Was ist mit grausam und archaisch anmutenden Verhaltensweisen (der teilweise noch anzutreffenden Anthropophagie), einer vom westlichen Standpunkt aus unzumutbaren Behandlung von Frauen? Wie wichtig sind uns diese grundsätzlichen Menschenrechte und schicken wir liberal-aufgeschlossene Humanistenapostel zu allen indigenen Völkern, die nach umfassender Bestandsaufnahme aller Bräuche den Menschen erklären, was sie nun tun und was sie besser lassen sollten?
Eine zufriedenstellende Lösung dieser Problematik scheint unmöglich: Es bleibt nur die selbstverständliche Forderung nach weitgehender Respektierung der Freiheiten dieser Völker. Bzw. die Hoffnung, dass deren Lebensräume geschützt werden. Wobei es sich hier aus westlicher Sicht leicht argumentiert, da der Westen einzig die Vorteile eines solchen Verhaltens für sich beanspruchen kann. Wäre es da nicht durchaus gerechtfertigt, wenn wir uns alle an den Kosten einer Erhaltung dieser Umwelt beteiligen würden? Denn die Geschichte der westlichen Industriestaaten zeigt, dass all das, was wir heute mit moralischem Anspruch von Brasilien (oder anderen Ländern) verlangen, in unseren eigenen Einflussgebieten ignoriert wurde. – Ein nachdenklich machendes Buch, dass das politsche Dilemma offenkundig werden lässt, dass aber – angenehmerweise – nirgendwo moralisierend auftritt, sondern durch die bloße Beschreibung einen objektiven Blick auf die Schwierigkeiten im Umgang mit indigenen Völkern ermöglicht.
Thomas Fischermann: Der letzte Herr des Waldes. München: Beck 2018.