Was sich bereits in Band 2 des Briefwechsels angekündigt hat, ist in Band 3, der die Briefe vom 11. Februar 1782 bis zum 5. Mai 1785 umfasst, vollzogen: Mercks faktisch gänzliche Abkehr vom Literarischen, ja selbst vom Kunsttheoretischen. Der Zufall will es zwar, dass Brief N° 501, der erste dieses Bands, von Wieland stammt, Brief N° 750, der letzte, von der Göchhausen. Aber Wieland, der Tiefurter Kreis, Weimar – sie treten in den Hintergrund. Schon der Schutzumschlag meiner Ausgabe, mit zeitgenössischen Zeichnungen von Ballons versehen, weist darauf hin: Mercks Interesse gilt nun fast ausschliesslich den Naturwissenschaften. Wobei dann die Ballons auch wieder irreführend sind. Wohl ist auch Merck, wie damals praktisch jeder, der akut grassierenden Ballonfahrer-Manie zum Opfer gefallen, aber er hat sich nur leicht und ephemer angesteckt. Montgolfier & Co. sind eine Fussnote in seinem Leben geblieben.
Gefüllt haben dieses sein Leben einerseits die Intrige um den hessisch-darmstädtischen Kanzler Friedrich Karl von Moser-Filseck. Dessen selbstherrlicher Regierungsstil verschaffte ihm viele Feinde, darunter eben auch Merck. Merck verkannte dabei von Mosers Versuche, die Soldatenmanie des Landgrafen Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt (Gatte der „Grossen Landgräfin“ Caroline, die seinerzeit den empfindsamen Zirkel in Mercks Haus frequentiert hat) einzudämmen und sowohl Kosten zu sparen wie Landeskinder, die der Graf zur Finanzierung seiner Manie freigiebig als Kanonenfutter in den englisch-amerikanischen Krieg verkaufte. Eine Zeitlang sah es so aus, als ob Merck nach dem Fall von Mosers grosse Karriere machen würde, aber er überwarf sich rasch mit dem neuen starken Mann der Regierung.
So blieb ihm nur noch seine grosse Liebe zu den Knochen. Die Osteologie und vor allem die Paläontologie fesselten sein Interesse zusehends. Er begann, sich „vorsintflutliche“ oder exotische Schädel und Skelette zu besorgen, die er abzeichnete und in seiner Korrespondenz mit den Grossen seiner Zeit zu bestimmen suchte. Zu seinen Korrespondenzpartnern gehören nun Leute wie Samuel Thomas Soemmerring, der berühmte deutsche Anatom, und der niederländische Mediziner Peter Camper, mit dem er auf Französisch korrespondierte. Selbst Briefe von und an die führende Persönlichkeit in der Biologie, Buffon, sind erhalten. In all diesen Briefwechseln schimmert auch immer wieder die Problematik der Paläontologie jener Zeit durch: Es konnte für den Wissenschaftler persönlich recht gefährlich werden, wenn er sich in Bezug auf die zeitliche Bestimmung eines Fossils zu weit aus dem Fenster lehnte, denn in protestantischen wie in katholischen Ländern hatte nach wie vor die alte Doktrin weit über die Kirche hinaus Gültigkeit, dass die Welt vor knapp 6’000 Jahren geschaffen worden sei und dass Noah alle, alle Tiere mit in seinen Kasten genommen habe. So vermied man zeitliche Bestimmungen der Funde, und so werden Mammuts und Mastodons als „Elefanten“, Saurier als „Krokodile“ bestimmt. Hier mischten sich wohl Vorsicht einerseits und die Tatsache, dass man selber der christlichen Doktrin noch verhaftet und der Gedanke der Evolution noch nicht gedacht war, andererseits. In andern Belangen war man aber weniger zimperlich. Andersfarbige Menschen wurden als minderwertig betrachtet, zum Teil nicht einmal als Menschen sondern als eigene Tierart, und so wundert es nicht, wenn Merck seinem Kollegen Camper zu Studienzwecken eine in Alkohol konservierte Leiche eines neunjährigen Mädchens aus einer lokalen „Mohrenkolonie“ zuschickt. (Der Behälter irrt dann monatelang umher und die Leiche kam offenbar in einem äusserst schlechten Zustand an. Den heutigen Leser graust es …)
Mit Goethe kommt es zu einer ernsthaften Verstimmung. Dieser ist gerade daran, den menschlichen Zwischenkieferknochen zu entdecken, den die zeitgenössische Anatomie bisher verneint hatte. Dafür bittet er Merck auch immer wieder um Zusendung von diesem oder jenem Schädel oder dieser und jener Zeichnung, was Merck auch bereitwillig tut. Allerdings will Goethe seinem alten Freund gegenüber nicht damit herausrücken, woran er denn nun arbeite. Erst als das Werk fertig ist, sendet er Merck eine sog. Prachthandschrift zur Weiterverbreitung in seinem anatomisch-osteologischen Freundeskreis. Merck tut auch dies, aber man merkt dem Begleitbrief an Soemmering an: Er ist verstimmt. Goethe hielt es nämlich nicht für nötig, Mercks Beitrag an sein Werk zu erwähnen. Entsprechend – und wohl ebenfalls, weil er die Autoritäten Soemmering und Camper über den „Amateur Goethe“ (wie er ihn selber in seinem Begleitbrief nannte!) stellte, Autoritäten, auf die er auch angewiesen war, wenn er weiteres osteologisches oder paläontologisches Material zu bekommen wünschte – entsprechend also hat auch Merck in Einklang mit diesen Autoritäten Goethes Entdeckung verworfen. Goethe, der sich bekanntlich auf seine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mehr einbildete als auf seine poetischen Werke, reagierte nun ebenfalls verschnupft.
Mit der Meldung des Todes des jüngeren Bruders des Herzogs Carl August von Weimar endet dieser Band.
2 Replies to “Johann Heinrich Merck: Briefwechsel. Band 3”