Bei Stil und Moral handelt es sich um eine Sammlung – zum Teil bereits woanders publizierter und für diese Ausgabe überarbeiteter – Essays des Schweizer Autors Lukas Bärfuss (*1971).
Bärfuss gilt – zumindest dem hiesigen Feuilleton – als der neue Frisch oder Dürrenmatt des (politischen) Essays. Das mag so sein; allerdings ist der Generationenunterschied unübersehbar. Der Pfarrerssohn Dürrenmatt beklagte, ob in Essays, Dramen oder Romanen, im Grunde genommen immer wieder die Tatsache, dass sich Gott aus dieser Welt zurückgezogen hat und den Menschen (nicht nur den Dürrenmatt!) darin alleine zurückliess. Hierin ist Dürrenmatt noch ein – zugegebenermassen äusserst interessantes – Relikt des Existentialismus. Frisch als Essayist war eher der typische linke Intellektuelle, dessen Kritik an der Schweiz und an der Welt immer sozialdemokratisch unterfüttert war. Bärfuss hingegen ist ein Autor des 21. Jahrhunderts. Wenn er Existentialist genannt werden könnte, dann in einem ganz andern, fürs 21. Jahrhundert typischen Sinn: Der Ausgangspunkt seiner Essays ist fast immer seine eigene Person.
So liest sich die 2015 im Wallstein-Verlag erschienene Essay-Sammlung Stil und Moral auch wie eine Skizze zu einer Autobiografie des Autors Bärfuss. Das fängt an bei den einleitenden Aufsätzen (Kolonien, Masken), wo Bärfuss eigene Erlebnisse in Afrika zu einer Art Kritik an schweizerisch-europäischen Verhältnissen verarbeitet – ohne dabei, das ist dieser Art des Schreibens zu Gute zu halten, die afrikanischen Verhältnisse zu beschönigen oder zu idealisieren. Das Christentum bekommt ebenfalls seine Hiebe – vor allem in Form seines Repräsentanten Zwingli. (Bärfuss stammt aus einer Gegend der Schweiz, in der die Leute bis heute dem Sektierertum recht gern anheim fallen…)
Diesen ersten, allgemeineren Essays folgen in der vorliegenden Auswahl welche zur Literatur. Tschechows Drei Schwestern, Robert Walser ist gleich zweimal vertreten, Shakespeare (Richard III.), Büchner (Woyzeck), Brecht, Kleist – und auch die zwei, mit denen man ihn immer vergleicht: Frisch und Dürrenmatt. Typisch ist der Anfang des Essays über Kleist (Der Ort der Dichtung), wo Bärfuss zuerst einmal ausholt und die Situation der Dichter im 21. Jahrhundert beschreibt:
Sie leben zwischen den Verhältnissen, gerade auch zwischen den wirtschaftlichen.
Einen Teil ihres Einkommens verdienen sie als freie Gewerbetreibende, indem sie auf dem Markt ihre Ware, das Buch, verkaufen. Daneben treten sie als Schauspieler ihrer selbst vors Publikum, und für ihre Lesungen erhalten sie eine Gage.
Das hat mit Kleist noch nichts zu tun, aber für Bärfuss ist der Weg über die eigene Person, die eigene Situation, der unumgängliche Weg zur Person und Situtation des Dichters Heinrich von Kleist.
So geht es weiter, unter anderem auch hin zu pädagogischen und poetologischen Fragen. (Bärfuss hat u.a. Reden zur Diplomfeier von neu ausgebildeten Grundschullehrern gehalten – Ode an die Lehrer – und welche zur Diplomfeier für Absolventen eines Gymnasiums – Ode an die Schüler, oder hatte die Heiner-Müller-Gastprofessur inne.) Bärfuss selber ist Schulabbrecher und hat sich sein Wissen de facto angelesen. So erleben wir in seinen Essays neben dem starken autobiografischen Einschlag auch immer den Einschlag des Autodidakten: Eine gewisse Faktenhuberei und ein belehrender Ton sind Bärfuss so wenig fremd wie z.B. Arno Schmidt.
Fazit: Bärfuss‘ Essays sind interessant zu lesen. Ich bin selber ein Überbleibsel des 20. Jahrhunderts und würde deshalb die Essayisten Frisch und Dürrenmatt doch höher einstufen als Bärfuss – nicht zuletzt auch in der politischen Resonanz der beiden. Doch Bärfuss‘ mangelnde Resonanz hat auch damit zu tun, dass die politische Bühne seit der Zeit des Kalten Kriegs eine grosse Wandlung durchgemacht hat – in Stil, Methoden, Themen. Insofern passt der immer ein wenig auf sich selbst bezogene Bärfuss perfekt in seine Zeit.