China Miéville: Das Gleismeer [Railsea]

Vorausgeschickt: Dies ist mein erster Miéville. Ich habe mir von kompetenter Seite bestätigen lassen, dass Mievilles Romane für Erwachsene komplexer sind als dieser hier. Denn für einmal bin ich damit einverstanden, eine Geschichte mit einem jugendlichen Helden auch als Jugendroman zu bezeichnen – vor allem auch, weil die Geschichte sehr geradlinig und ohne grosse philosophische oder andere Kinkerlitzchen erzählt wird. Das schadet dieser Geschichte hier übrigens nicht einmal. Es gibt zwar den Erzähler, der sich auch schon mal direkt an seine Leser wendet und ihn damit triezt, dass er nun doch so oder so fortfahren könnte – es aber nicht tue. Doch das ist heute selbst in Kinder- und Jugendliteratur schon beinahe Standard.

Nach allem, was ich weiss, gilt Miéville als Vater oder einer der Väter des Steam Punk. Diese Faszination mit veralteter oder veraltender Technik finden wir in Das Gleismeer zwar auch – aber die hier vorkommenden Fahrzeuge sind nicht nur mit Dampf, sondern ebenso mit Diesel betrieben, mit Elektrizität, mit Schwungrädern, werden aufgezogen wie Kinderspielzeuge oder verfügen über eine geheimnisvolle interne Energiequelle, die entweder Atomkraft sein könnte oder Robert A. Heinleins Shipstone.

Überhaupt … die fremden Einflüsse … Miéville gilt als einer der Meister des sog. Mashup. Das ist im vorliegenden Zusammenhang mit der Pop-Musik zu verbinden, wo es das Mischen unterschiedlicher Motive bzw. Melodien in einem einzigen Lied meint. (Für die älteren Semester: ein Quodlibet.) Und dieses Mischen unterschiedlicher Motive beherrscht Miévielle tatsächlich aufs Meisterlichste. Wir finden am Ende des Buchs, in der DANKSAGUNG, eine lange Liste von Autoren & Künstlern, in deren Schuld [er] stehe. Ich kenne vielleicht einen Viertel von den auf dieser Liste aufgeführten Namen. Joan Aiken – allerdings nur dem Namen nach. Defoe, dessen Robinson-Crusoe-Motiv des auf einer einsamen Insel Gestrandeten und sich aus angeschwemmten Resten der Zivilisation eine neue, eigene Zusammenbastelnden in einer jener oben erwähnten Triezereien Miéville anspricht. Was er Erich Kästner zu verdanken haben will, ist schwieriger zu bestimmen. Vielleicht das Grundmotiv des vom Vater (sowieso), aber auch von der Mutter verlassenen Jungen, der sich selbst wehren muss und schliesslich auch lernt, sich selber zu helfen. Meine Lektüre von Ursula le Guins Erdsee ist zu lange her, um genau sagen zu können, welchen Einfluss wir daran festmachen könnten, und vielleicht bezieht sich Miéville ja auch auf andere Romane dieser Autorin. Herman Melville … man liest, Miéville hätte dessen Moby-Dick neu und gestrafft erzählen wollen, reduziert quasi auf den Abenteuerroman, der Moby-Dick nicht ist. Diese These ist, auch wenn sie von Miévielle selber stammt, Unsinn. Miéville parodiert ein paar Grundmotive von Moby-Dick. Dies nicht einmal ungeschickt – aber das ist alles. Die Ausgangssituation von Railsea und Parodie von Moby-Dick besteht darin, dass Miéville an Stelle des Meers aus Salzwasser ein Meer von Geleisen nimmt, gefüllt mit Kreuzungen und Weichen, nur mit einem nicht: einem Ende. Auf diesem Gleismeer fahren statt der Schiffe nun Züge. Diese Züge gehören verschiedenen Nationen an und üben verschiedene Tätigkeiten in diesem Gleismeer aus. Selbst Häfen gibt es und Schlepperlokomotiven, die die fremden Züge in ihre Häfen ziehen, damit diese dort ihre Ladung löschen können. Auf einem dieser Züge heuert der Held der Geschichte, der junge Sham ap Soorap, als Lehrling des Medicus an. Die Aufgabe dieses Zugs ist es – Maulwürfe zu jagen. Was nämlich bei Melville die Wale sind, die als riesige Bedrohung im Wasser schwimmen, sind bei Miéville riesige Maulwürfe, Hasen, Ameisenlöwen etc. etc., die unter der Erde in einem Affentempo Höhlen graben, um zu jagen. (Denn alle diese – zumindest für uns Menschen – harmlosen Viecher sind bei Miéville zu bedrohlichen, riesigen Bestien geworden.) Und natürlich haben die Züge bei Miéville keinen Lokführer, sondern einen Kapitän. Im Falle von Shams Zug handelt es sich dabei um eine Frau: Kapitänin Abacat Naphi (genau: ein Anagramm von Captain Ahab). Sie hat natürlich ihre Obsession – in ihrem Fall ein gelber Riesenmaulwurf. (Gelb? Vanille? Elfenbein? Man streitet sich sogar um die Farbe…) Der Riesenmaulwurf heisst Mocker Jack und hat ihr – nein, nicht das Bein – sondern den linken Arm abgerissen. Nun verfügt sie über einen künstlichen mit diversen Gadgets versehenen (was wiederum auf Heinleins Waldo hinweisen würde). Nicht nur sie, sondern Dutzende von Kapitänen haben eine solche Obsession, denen sie teilweise auch Gliedmassen geopfert haben; es ist sozusagen ein Teil der Berufsehre von Kapitänen, eine solche Obsession aufzuweisen und ihr Gliedmassen geopfert zu haben, und sie wird Philosophie genannt. Damit hat es sich dann mit der Ähnlichkeit bzw. Parodie – ausser vielleicht noch, dass die Jagd mit Harpunen auf den Maulwurf und das Schlachten und Zerlegen desselben natürlich noch auf Melville anspielt. Und dass die Parodie durch das Aufdecken der Tatsache, dass der künstliche Arm der Kapitänin eine Fälschung ist, akzentuiert wird. Selbst das Falsche ist falsch. Die Geschichte biegt im Übrigen sehr rasch in einen Jugendabenteuerroman im Stile von R. L. Stevenson ein. Wie bei der Schatzinsel geht es um das Erreichen eines geheimnisvollen Ziels, wie bei der Schatzinsel kommen auch Bösewichte in Form von Piraten vor. Damit hätten wir zugleich einen weiteren Schriftsteller erwähnt, in dessen Schuld zu stehen Miéville zugibt. Von seiner Liste kenne ich dann nur noch die beiden Strugatzkis, allerdings auch nur das Picknick am Wegesrand – das ich allerdings bei der Lektüre enttäuschend fand. (Besser gelungen war da der Film nach Motiven von Picknick am Wegesrand, Stalker.) Aber die beklemmende Atmosphäre von Miévilles post-apokalyptischer Szene könnte durchaus auf die Brüder Strugatzki zurückzuführen sein. (Oder doch auf den Film?)

Daneben gibt es sicher auch Einflüsse, die Miéville nicht nennt, auch wenn er sie in sein Quodlibet eingebunden hat. Da ist der bereits erwähnte Heinlein, der mir ein paar Mal aus den Seiten herauszugucken scheint. Auch Mangas, so wenig ich davon verstehe, haben sicher bei der einen oder andern Figur (mit) Pate gestanden – vielleicht steckt ja hinter diesem oder jenem Namen, der mir nichts sagt, ein Manga-Autor.

Miévilles Roman spielt, wie schon gesagt, in einer post-apokalyptischen Welt. Erde und Himmel sind verseucht und werden von allerlei seltsamem Getier bewohnt. Die Ebenen sind unbewohnbar, weil diese Tiere, die dort unterirdisch leben, jedes sich darauf bewegende Lebewesen sofort packen, töten und fressen. Nur gewisse Gebirge, die aus extra-hartem Stein sind, können bewohnt werden. Diese Gebirge ragen aus der Ebene heraus wie Inseln oder Kontinente aus dem Meer. Der Grund für die Zerstörung von Himmel und Erde war offenbar ein Wirtschaftskrieg zwischen Eisenbahnbaronen, die lieber die ganze Welt zu Grunde richteten und mit Geleisen bedeckten, als miteinander Handelsverträge abzuschliessen. Nun gibt es nur noch die Geleise, aber weder die Barone noch deren Eisenbahngesellschaften mehr.

Das Universum, in dem Railsea spielt, kann übrigens nicht das unsere sein. Das Tempo, das die Maulwürfe in ihren unterirdischen Grabungen an den Tag legen (bzw. eben nicht an den Tag sondern an die unterirdische Nacht legen), ist viel zu hoch, als dass es in einem andern Medium als in einem flüssigen (also Wasser) möglich wäre. Aber hier ist die Erde, auf die zu treten sich Sham so sehr hütet, feste Erde, auf der auch Geleise verlegt werden konnten. Auch sind gewisse Tiere, wie z.B. der riesige Ameisenlöwe, physikalisch nicht haltbar – jenseits einer gewissen Körpergrösse kann der offene Blutkreislauf eines hiesigen Insekts nicht mehr funktionieren. (Ich tippe bei diesen Viechern übrigens auf ein weiteres Mashup, diesmal mit alten Horrorfilmen, in denen Riesenameisen oder Riesenspinnen die Welt bedrohen.)

Ein Jugendroman, der viel Spannung aufweist. Ich glaube nicht, dass Jugendliche mit ihrer doch noch beschränkteren Leseerfahrung alle Anspielungen Miévilles entziffern können – konnte ich es doch selber nicht. Die recht geradlinige und wenig komplexe Handlungsführung entschädigt mit ihrer Spannung dafür; enttäuscht allerdings vielleicht den ‚erwachsenen‘ Leser. Man darf von einem Jugendroman wohl nicht zu viel erwarten. Es ist Miéville zu Gute zu halten, dass seine Figuren, selbst die piratischen Bösewichte, keinem Schwarz-Weiss/Freund-Feind-Schema untergeordnet werden können. Mir hat der Roman – unter diesem Gesichtspunkt gelesen – ein vergnügliches Wochenende beschert.

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