Beide stammten sie aus sog. ‚hübscher‘ Familie. Die ‚hübschen Familien‘ bildeten im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Kurhannover und im Königreich Hannover den zweiten Stand der Ständegesellschaft. Unter der regierenden Aristokratie waren sie eine Art Beamtenadel, allerdings auf bürgerlicher Basis. Ähnlich aber wie die Aristokratie achteten diese bei Hofe zugelassenen Familien darauf, unter sich zu bleiben. Heirat in andere bürgerliche Familien, z.B. Ärzten, Kaufleute oder Anwälte, war verpönt. Die Herkunft aber wäre, wie gesagt, bei Boie und Mejer kein Problem gewesen. Warum also warteten die beiden fast 10 Jahre lang, bis sie sich das Jawort gaben?
Die Antwort ist simpel: Es fehlte beiden an Geld. Bis Boie ein Amt gefunden hatte, das ihn ernähren konnte, musste er lange warten und sich ziemlich hoch verschulden. Nachdem er endlich eines hat, spricht er in seinen Briefen immer wieder davon, wie er nun endlich diesen oder jenen Betrag zurückzahlen könne. Für zwei würde sein Gehalt allenfalls reichen, wenn beide sehr anspruchlos waren und er alle Schulden abgetragen hatte. Luise Mejer konnte ihm da nicht helfen; sie war selber arm, und der Briefwechsel zeigt schön aber schonungslos die Situation einer Bürgerlichen am Ende des 18. Jahrhunderts auf. Da es damals weder Ausbildung noch Jobs für Frauen gab, bzw. die, die es gab (Dienstmädchen, Wäscherin u.ä.), für Eine aus ‚hübscher‘ Familie inakzeptabel waren, blieb Luise nichts anderes als für Unterkunft und Verpflegung als Vorleserin, Gesellschafterin oder Krankenpflegerin sich durchzuschlagen. Vor allem als Krankenpflegerin: Mehr als eine jüngere oder ältere Geschlechtsgenossin wird in den sechs Jahren des ersten Bandes von ihr in den Tod begleitet. Dabei war Mejer selber von kränklicher Disposition und hätte – nach heutigen Begriffen – in der Welt der Intelligentsia eine Rolle spielen können. Sie war sehr belesen und ihr Urteil in litteris nicht zu verachten.
Boies grosses Hobby war auch die Literatur. Als erster im deutschen Sprachraum gab er einen Musenalmanach heraus, und er war dem Göttinger Hainbund eine Art Mentor. Als er Luise kennenlernte, war der Hainbund allerdings schon Geschichte. Etwas melodramatisch schildert Luise, wie sie sich kennenlernten, nämlich als Boie vom Sterbebett Höltys in Gesellschaft kam.
Man kann den ersten Band des Briefwechsels auch lesen als die Geschichte eines Versuchs, im Norden Deutschlands ein literarisches Zentrum herauszubilden. Und – vor allem – als die Geschichte davon, wie dieser Versuch scheitert. In Göttingen, das als Universitätsstadt prädestiniert dafür gewesen wäre, fehlte es an einer leitenden und planenden Hand, wie es gleichzeitig Anna Amalia in Weimar war. Weder Kästner, noch Heyne, noch Lichtenberg fühlten sich dazu berufen. Heyne hatte genug mit privaten Problemen zu tun – vor allem seine Tochter Therese war recht unbotmässig. (Weder Boie noch Mejer schätzten das – obwohl sie Forster mochten und seinen Reisebericht beide gelesen hatten.) Rivalitäten zwischen Professoren und den übrigen Intellektuellen (in denen auch Lichtenberg tapfer mitmischte – vor allem mit Voß zankte er sich über das Übersetzen, und Boie hatte alle Hände voll zu tun, dass nicht auch noch seine Person allzu sehr in diese Streitigkeiten hineingezogen wurde) taten das Ihre dazu, dass dort nichts entstehen konnte. Die Intellektuellen zerstreuten sich, weil sie überall in der Umgebung Jobs annehmen mussten: Bürger ebenso wie Goeckingh. Vor allem letzterer lieferte noch immer regelmässig in Boies Deutsches Museum, wie dessen Zeitschrift mittlerweile hiess. Keiner vom Hainbund hatte das Glück des von ihnen verehrten Klopstock, einen geldkräftigen Mäzen zu finden.
Zu Goethe und seinem Kreis (heute vulgo ‚Sturm und Drang‘ genannt) bestanden nur lockere Beziehungen. Man empfing Klinger auf der Durchreise nach Russland, wo er in militärische Dienste treten wollte, konnte aber nicht so recht etwas mit ihm anfangen. Goethe reiste vorüber, ohne einen Hainbündler zu besuchen. Am ehesten war Boie noch über ihn informiert durch Briefe, die er mit Merck austauschte – aber auch Merck verlor in diesen Jahren den intimen Kontakt zu Goethe, der daran war, sich in Weimar einzunisten. Wieland war zwar mit Gott und der Welt, und somit auch mit Boie, befreundet; aber von ihm kamen offenbar keine Neuigkeiten über Goethe in den Norden. Charlotte Kestner und ihr Mann waren da – aber Goethe-Werther hatte das Interesse an seinem Lottchen schon lange verloren, und Luise fand die Kestner einfach nur schrecklich.
Claudius erscheint in den Briefen der beiden Liebenden ebenfalls noch – aber ansonsten sind es die vielen privaten Sorgen und Kümmernisse, die den Briefwechsel prägen: die Kranken um Luise, die täglichen Mühsale in Boies Job, die beiderseitigen Geldsorgen.
Ein eindrucksvoller Briefwechsel. Schade nur, dass die Herausgeberin Regina Nörtemann (oder war es der Wallstein-Verlag, wo der Briefwechsel 2016 erschien?) sich entschieden hatte – im Gegensatz zum Beispiel zum im selben Verlag erschienen Briefwechsel des oben schon genannten Merck – Anmerkungen zu Personen und Überlieferung in einen separaten Band zu verbannen, so dass der Leser nun gezwungen ist, zwei Bücher gleichzeitig geöffnet zu halten, was Lesefluss und Konzentration doch beträchtlich stört.
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