Pietschmann unterscheidet zwischen logisch wahren und falschen Aussagen (etwa auf die Mathematik bezogen), zwischen richtigen und wahren Aussagen (richtige Aussagen sind beweisbar, wahre sind bezweifelbar) und konstruiert dann in einem dialektischen Dreischritt den Term „sicher“, der sich durch Falsifizierbarkeit auszeichnet. (Natürlich stellt sich hier die Frage, ob beweisbare Aussagen nicht auch bezweifelbar oder falsifizierbar sind – aber nur für den Leser, den Autor ficht das nicht an.) Zwischen diesen Ausdrücken soll man sich Verben vorstellen: Zwischen richtig und wahr „denken“, zwischen richtig und sicher „konstruieren“ und zwischen wahr und sicher „handeln“. Demnach sind richtige (beweisbare) Aussagen vom Handeln ausgeschlossen, wahre vom Konstruieren und sichere vom Denken. Die sicheren Aussagen (und damit sind die Naturgesetze gemeint) haben mit Denken also nichts zu tun, sie liegen zwischen Theorie (Konstruieren) und Praxis (Handeln) und bestätigen auf diese Weise Heidegger, der der Wissenschaft das Denken abgesprochen hat (das kann man durchaus so sehen, ist aber immer nur ein Spiel mit Worten: Es hängt eben davon ab, wie ich für meinen Zweck „Denken“ definiere).
Der Erkenntnisfortschritt hängt nach Pietschmann von den Widersprüchen ab: Ihre Elimination ist jener Antrieb, der die Wissenschaft vorwärts bringt (und hier liegt Pietschmann auf der Linie von Popper, der allerdings sich ganz entschieden gegen die dialektische Aufhebung derselben gewendet hat, weil gerade das den Widerspruch aufrecht erhält und damit dem Fortschritt abträglich ist – aus Widersprüchlichkeiten kann alles gefolgert werden). Fünf Stufen werden unterschieden: Eine kritische (ist ein aufgetretener Widerspruch ernst zu nehmen oder kann er vorläufig ignoriert werden), eine phänomenologische (die eine Analyse der Phänomene beinhaltet), in der dritten Stufe wird erwogen, ob man zu einer Zusatzhypothese oder einer Einschränkung des Gültigkeitsbereiches der bisherigen Theorie greifen soll, ist dies nicht möglich oder sinnvoll, so muss die Theorie viertens modifiziert werden oder – höchste Stufe – eine Synthese durch Aufheben der Widersprüche erfolgen, wie in der Quantenmechanik, die einen „Paradigmenwechsel“ gebracht habe.
Der Umgang mit Begriffen wie dem Kuhnschen Paradigmenwechsel lässt allerdings sehr zu wünschen übrig (und diese Schwammigkeit durchzieht das ganze Buch – und wohl auch diese Besprechung). Pietschmann spricht häufig von diesen Paradigmen, ist sich aber einiger für Kuhn konstituierender Merkmale dieser Paradigmen nicht bewusst: So wird auf die für Kuhn wichtige und auch epistemologisch bedeutende Inkommensurabilität der Theorien überhaupt nicht eingegangen. Und das hat natürlich auch seinen Grund: Denn selbst die Hegelsche Synthese der Begriffe müsste irgendeine Art der Vergleichbarkeit voraussetzen (alle anderen Stufen der Widerspruchselimination noch viel mehr). Pietschmann verwendet eine Art „Hausverstandskuhn“, eine Version, die jedem, der sich jemals mit einem Physiker über seine Forschung unterhalten hat, selbstverständlich erscheint. Denn natürlich sind die streng methodologischen Vorgaben Popperscher Herkunft nicht einhaltbar, natürlich gibt es Gespräche über Forschungsergebnisse, werden diese von den eigenen Präferenzen beeinflusst (Pietschmann bringt hier einige schöne Beispiele), es gibt eine Parteienbildung und wohl auch eine Art Religionskrieg über bestimmte Auffassungen. Und natürlich werden Neuerungen mit Skepsis betrachtet, man neigt – wie überall sonst – nicht dazu, Bewährtes aufzugeben für ein unsicheres Neues: Das Gute ist der Feind des Besseren. Aber das alles hat nichts (oder sehr wenig) mit dem theoretischen Konzept der Normalwissenschaft und des Paradigmenwechsels im Kuhnschen Sinne zu tun, das sind vielmehr jene Dinge, die die reinen Methodologen immer zu ignorieren pflegten und die teilweise erst jenen relativistischen Wissenschaftsbegriff provozierten, den Kuhn & Co. vertraten.
Ähnlich verfährt Pietschmann in seiner Ontologie: Er ist diesbezüglich ein Anhänger Kants und glaubt an die Unerkennbarkeit des Dinges an sich. Allerdings kann der Konsens im Sinne eines reinen Konstruktivismus ohne Annahme einer Realität nicht erklären, warum Theorieänderungen überhaupt stattfinden (die zumeist auf Beobachtungen fußen). Selbstverständlich ist der soziale Druck (auch innerhalb der Physikergemeinschaft) groß, so groß, dass im Sinne der kognitiven Dissonanz es zu konsensorientierten Beobachtungen kommen kann. Das aber ist – wie die Geschichte zeigt – trotz allem der Ausnahmefall: Denn die vielen Korrekturen, die an unserem Bestand an Theorien vorgenommen wurden, sind ohne Realitätsbezug völlig unerklärlich. (So hätten nach Newton alle Beobachter keine Abweichungen der Uranus-Bahn feststellen dürfen: Aber das Gegenteil war der Fall, die Anomalien waren lange bekannt und wurden – trotz des Konsenses über die Richtigkeit von Newtons Theorie – immer wieder beobachtet. Desgleichen das Problem mit dem Merkur-Perihel. Konsens und sozialer Druck sind unzweifelhaft vorhanden, aber auf Dauer offenkundig unwirksam: Ansonsten könnten wir solche Phänomene wie jenes der kognitiven Dissonanz noch nicht einmal feststellen.) Was immer man auch gegen den kritischen Realismus einwenden kann: Das Weltbild eines konsensorientierten Konstruktivismus ist nicht in der Lage, die naturwissenschaftliche Entwicklung zu erklären.
Der Grund für ein solches Weltbild liegt in einem relativistischen Weltbild Pietschmanns: So glaubt er zwischen Wirklichkeit (das für das einzelne Subjekt Erfahrbare) und Realität (Dinge an sich) unterscheiden zu können. Als einen Beweis für diese Unterschiedlichkeit betrachtet er die kulturelle Vielfalt: Die Gestalt der Wirklichkeit würde sich in den Kulturen enorm unterscheiden. Er übersieht (wie fast alle Kulturrelativisten), dass sich die grundlegenden Vorstellungen der Realität (im Sinne Pietschmanns) überhaupt nicht unterscheiden: Die ontologischen Konzeptionen von indigenen Völkern und der „Hochzivilisation“ sind weitgehend ident und müssen es auch sein, weil wir uns mit derselben ontologischen Umwelt konfrontiert sehen. Wir versuchen nicht, Laternenpfähle umzurennen (außer in illuminiertem Zustand) – und südamerikanische Amazonasindianer weichen in der Regel Bäumen aus. Der kulturelle Überbau mag ein anderer sein (aber selbst der weist oft überraschende Ähnlichkeiten auf), unsere Vorstellungen aber sind an die „Realität“ angepasst und diese Anpassung haben alle Menschen gemein. Ansonsten wäre es weder uns noch den Eingeborenen gelungen zu überleben.
Das Buch ist nach meinem Dafürhalten ein ziemliches Wirrwarr von Ideen, die um den Begriff der Aporie und deren Auflösung in der Dialektik kreisen. Spürbar ist im Hintergrund eine gewisse Angst vor einem materialistischen Weltbild und auch die Erleichterung, dass die Quantenphysik (oder die Relativitätstheorie) einer solchen, vorstellbaren Realität einen Strich durch die Rechnung macht. Dass unser Denken über Jahrmillionen sich dem Mesokosmos angepasst hat und wir daher in diesem keine Bilder für die Vorgänge im Mikro- oder Makrokosmos finden können, dürfte Pietschmann eine zu triviale Erklärung für dieses Unvermögen sein. Doch ist an dieser Tatsache eigentlich nichts Wunderbares, eher etwas Selbstverständliches. Wobei auch für die Quantenphysik bzw. für das Verhalten der Quanten „verständliche“ Erklärungen zur Verfügung stehen (z. B. in Hinsicht auf das Informationspotential, das solche kleinsten Einheiten tragen (oder nicht mehr) tragen können): Keinesfalls aber scheint mir eine (im übrigen wohl auch missverstandene Hegelsche Dialektik) in irgendeiner Form diese Schwierigkeiten zu beseitigen. Aber auf Metaphysik zu verzichten hat immer auch damit zu tun, auf das Besondere des Menschen zu verzichten, ihn als – einigermaßen komplizierten – aber keineswegs außergewöhnlichen Teil dieses Universums zu betrachten. Das wird auch im historischen Teil des Buches deutlich, wenn Pietschmann im Zusammenhang mit Descartes‘ „cogito“ Keiji Nishitani zitiert, der die Zweifel nicht nur auf die Existenz, sondern auch auf den Tod (und das Nichts(!?)) bezieht: „Wie ich bereits gesagt habe, können wir in uns selbst des Todes und des Nichts als etwas gewahr werden, das die Basis unseres Lebens oder unserer Existenz ausmacht; das bedeutet nicht, dass Tod und Nichts als etwas Subjektives angenommen werden. Vielmehr werden wir ihrer als etwas gewahr, dass im Grunde alles Seienden, im Grund der Welt selbst verborgen und in diesem Sinne etwas Wirkliches ist.“ Dieses geheimnisvolle Raunen von etwas Unbegreiflichem (das Nichts und der Tod), stellt sich überall dort, wo wir es nicht mit metaphysischem Gepränge versehen, als höchst verständlich, einfach, banal dar: Das Sterben, der Tod unserer Haustiere (oder derjenigen Lebewesen, die wir auf dem Mittagstisch verzehren), führt in der Regel auch nicht zu Gedanken über das im Weltgrund verborgene Seiende. Es ist das Ende eines hömöostatischen Systems. Nur wenn Mensch – oder gar „ich“ draufsteht, dann wird es kosmisch wichtig und tiefsinnig. Ziemlich anmaßend – will mir scheinen.
Herbert Pietschmann: Phänomenologie der Naturwissenschaft. Heidelberg: Springer 1996.
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