William Gaunt: The Pre-Raphaelite Tragedy

Der englische Kunstkritiker William Gaunt (1900-1980) wurde vor allem bekannt durch seine Bücher über die englische Malerei des 19. Jahrhunderts, und vor allem die über William Turner und die sog. Präraffaeliten. Während einige seiner Bücher (zu Turner oder dem 19. Jahrhundert allgemein) auch auf Deutsch übersetzt worden sind, finde ich bei diesem Buch, dessen Titel man als Die präraffaelitische Tragödie wiedergeben könnte, keinen Hinweis auf eine deutsche Übersetzung. Das ist durchaus logisch, waren doch die Präraffaeliten, kunstgeschichtlich gesehen, eine englische Spezialentwicklung, auch wenn Gaunt am Ende seines Buchs ihren Einfluss auf die französischen Symbolisten und Surrealisten geltend macht.

Gaunt schreibt die Geschichte der Präraffaeliten in Form ein Parallel-Biografie ihrer Mitglieder – vom ersten Treffen der beiden mit dem Zustand und der künstlerischen Ausrichtung der Royal Academy of Arts äusserst unzufriedenen jungen Maler William Holman Hunt und John Everett Millais, denen sich kurze Zeit später Dante Gabriel Rossetti zugesellen sollte, bis zum Tod der Hauptvertreter. Hunt, Millais und Rossetti bildeten rasch die sogenannte Präraffaelitische Bruderschaft – ‘präraffaelitisch’, weil sie sich mit der gesamten Entwicklung der Malerei seit Raphael nicht identifizieren konnten (der dennoch grossen Einfluss auf ihren Malstil haben sollte); ‘Bruderschaft’, weil (so Gaunt) Rossetti aus seinen italienischen Wurzeln eine Vorliebe für Mafia-ähnliche Strukturen hatte. (The Pre-Raphaelite Tragedy ist 1924 entstanden, selber also noch das Werk eines jungen Mannes. So etwas dürfte man heute nicht mehr sagen oder schreiben.) Rossetti war jedenfall der grosse Organisator der Bruderschaft und holte kurze Zeit später James Collison, Frederic George Stephens, Thomas Woolner und seinen Bruder William Michael an Bord. Alle sollten sie gemäss Dante Gabriel begabte Maler sein, auch wenn William Michael sich keineswegs so sah und sich später immer nur als Sekretär der Gesellschaft bezeichnen würde. Als sich die ursprüngliche Siebner-Gemeinschaft aufzulösen begann, sammelte Dante Gabriel noch einmal eine Gruppe junger Künstler um sich. Auch bei dieser zweiten Gründung war Dante Gabriel noch keine 30 Jahre alt, die jüngere Generation Präraffaeliten nur etwa 5 Jahre jünger. Unter diesen Jungen befand sich als heute noch bekannter Mann William Morris, dessen Kunsthandwerk und dessen Buchdruck bis heute berühmt sind. Eine Tragödie waren die Leben der Präraffaeliten insofern, als dass vor allem die ursprünglichen Brüder letzten Endes ihr Ziel nicht erreichten. Zwar wurde ihr Stil im Laufe der Zeit anerkannt, ja die präraffaelitische Schule galt im 20. Jahrhundert als typischer (und demnach, solche Geschichten wiederholen sich, wiederum zu verdammender) Stil der viktorianischen Zeit. Aber ihr eigentliches Ziel war es, eine Malerei einzuführen, die der Wahrheit verpflichtet war; die Tragödie lag darin, dass jedes Mitglied des Bundes das Wort ‘Wahrheit’ je anders interpretierte. Dies führte zur oben schon erwähnten Entfremdung der Maler untereinander. So suchte William Holman Hunt die Wahrheit in der Religion, was den weltlich eingestellten Dante Gabriel Rossetti befremdete. John Everett Millais opferte das präraffaelitische Gedankengut dem Erfolg beim Publikum – den er zweifellos hatte: Er wurde selber Mitglied jener Royal Academy of Arts, gegen die er als junger Mann rebelliert hatte. Ja, er war der erste Maler in England, dem ein erblicher Adelstitel verliehen wurde.

Gaunts Stil ist – schon der Titel des Buchs verrät es – schwungvoll und schreckt auch vor Hyperbeln nicht zurück. Interessanter noch als die Parallelbiografien der Präraffaeliten ist für heutige Leser, mitzuverfolgen, wie diese Maler mit der übrigen künstlerischen (und da vor allem auch literarischen) Welt Englands eng verknüpft waren. Ihre allererste Erhebung gegen die Royal Academy of Arts fand statt, weil sie der Verdammung Turners durch die aktuelle Kunstkritik nicht folgen wollten. John Ruskin, der William Turner rehabilitierte, wurde auch zu jenem Kritiker, der die Präraffaeliten protegierte – und das selbst dann noch weiterführte, als John Everett Millais ihm seine Frau abspenstig machte. Da die Präraffaeliten in vielem auch Romantiker waren, bestanden mit den Autoren der englischen Romantik enge Beziehungen – Tennyson (der sich immer wieder positiv über die Präraffaeliten äusserte), Carlyle und Allingham wären da zu nennen. Auch die ganz anders gewickelten Carroll und Lear standen in Kontakt mit ihnen; Dodgson z.B. hat einige der Präraffaeliten mit ihrer Familie fotografiert. (Ein paar dieser Fotos finden sich – neben Reproduktionen von Werken der Präraffaeliten – auch in meiner Ausgabe [London: The Folio Society, 2017].) Selbst zur bizarren Gestalt eines Swinburne bestanden Beziehungen. Nicht nur zeitgenössisch, auch familiengeschichtlich spielte die Literatur eine Rolle. Der Onkel der Rossettis war jener William Polidori, der als Arzt Byrons und als Autor von The Vampyre bekannt wurde; Schwester Christina schrieb Gedichte. (Ihre kurzfristige Verlobung mit dem Präraffaeliten James Collinson wird von Gaunt – warum auch immer – nicht erwähnt: Collinson war bereit, ihretwegen – sie war überzeugte Anglikanerin – vom Katholizismus zurück zu konvertieren. Eine Heirat zerschlug sich, weil Christina zusehends frömmer wurde und sich eine menschliche Liebesbeziehung oder Verbindung nicht mehr vorstellen konnte.) Der Maler Ford Madox Brown, der zumindest in den Dunstkreis der Präraffaeliten gehörte, war der Grossvater jenes Ford Hermann Hueffer, der sich dann zu Ehren seine Grossvaters Ford Madox Ford nennen sollte. Last but not least soll jene seltsame Gestalt nicht unerwähnt bleiben, die eine Zeitlang dem durch Alkohol und Medikamente physisch wie psychisch langsam zu Grunde gehenden Dante Gabriel Rossetti als eine Art Sekretär und Agent diente: Charles Augustus Howell. Eine zwielichtige Gestalt, die ihre Auftraggeber wahrscheinlich schon zu Lebzeiten um dieses oder jenes bestahl. Eines Tages wurde er mit aufgeschlitzter Kehle vor einer wenig reputierlichen Kneipe tot (oder sterbend – die Berichte gehen da auseinander) gefunden. Eine Durchsuchung der Wohnung des Toten förderte Dutzende von Briefen zum Teil hochgestellter Persönlichkeiten zu Tage, fein säuberlich geordnet und katalogisiert. Das Gerücht, Howell sei ein Erpresser gewesen, machte die Runde, konnte allerdings nie offiziell bestätigt werden. Immerhin diente Howell postum als Modell des Bösewichts in der Sherlock-Holmes-Erzählung The Adventures of Charles Augustus Milverton.

Damals als Rehabilitation der präraffaelitischen Malerei vefasst, stellt heute das Buch eine nicht uninteressante, wenn auch wohl nicht immer vollständige oder akkurate, Gesamtdarstellung des Kunst- und Literaturbetriebs im viktorianischen England dar. Frisch geschrieben und deshalb leicht lesbar.

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