John Ruskin: The Stones of Venice [Die Steine von Venedig]

Südseite des Markusdoms im Regen. Zeichnung von John Ruskin. Zu sehen sind eine Balustrade und einigie Stützpfeiler. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Wenn die offiziellen und teilweise auch die privaten Prunkgebäude Großbritanniens aus der Regierungszeit von Königin Victoria praktisch alle in diesem hässlichen neugotischen Stil erbaut worden sind, so sind in hohem Maß dieser Mann und dieses Buch dafür verantwortlich. Erschienen 1851-1853 in drei Bänden, wurde das Buch rasch zu einem großen Erfolg. Vielfach wurden nur spezifische Teile davon gedruckt bzw. gelesen – auch ich habe nicht das ganze Werk gelesen sondern nur einen von Jan Morris zusammengestellten Auszug.

Aber selbst in diesem Auszug wird rasch klar, warum Ruskins Werk ein derartiger Erfolg werden konnte. (So groß in der Tat, dass Jan Morris in ihrem Vorwort erzählen kann, wie sie noch 1974 ein Pärchen in Venedig gesehen hat, das die Stadt an Hand eines als Reiseführer gestalteten Auszugs aus den Stones of Venice besichtigt hat. Nebenbei ist es auch in hohem Maß das „Verdienst“ Ruskins, dass die Stadt sehr rasch zu einem beliebten Ziel für britische – und auch andere! – Hochzeitsreisende wurde.) Ruskin schreibt klar und beschreibt präzise. Man merkt seinen Beschreibungen an, dass er tatsächlich vor Ort war – und damit ist nicht nur gemeint, dass er von unten die Kapitälchen irgendwelcher Säulen auf fünf Meter Höhe betrachtet hat. Ruskin nahm sich die Mühe und baute kleine Gerüste oder kletterte auf hohe Leitern, um die Dinge genau betrachten und abzeichnen zu können. Oder dann lief er den lieben langen Tag in der Stadt herum mit seinen Apparaturen und fertigte eine Daguerrotypie nach der anderen an. Seine Frau überließ er anwesenden Offizieren, die sie unterhalten sollten. Es war – nebenbei – die erste Reise ins Ausland der beiden und sie waren noch im ersten Jahr ihrer Ehe, wo man von einem Gatten anderes erwartet hätte. Ohne jetzt auf Ruskins seltsames Privatleben eintreten zu wollen: Diese Ehe hielt nicht sehr lange.

Zurück zum Autor Ruskin. Neben der gerade genannten Klarheit im Ausdruck beeindruckte er sein Publikum auch durch seine überzeugend formulierten kunsttheoretischen und kunstgeschichtlichen Thesen – überzeugend auch dann, wenn bei näherem Hinschauen ihre Unhaltbarkeit schon den Zeitgenossen hätte auffallen können. Die wichtigste seiner Thesen lautete, dass die Baukunst in Venedig ihren Höhepunkt mit der – Gotik erreicht hätte. Die Romanik war auch noch in Ordnung, kam aber nur selten vor. Aber die Gotik war für ihn das Maß aller Dinge, weshalb er dann auch in der Renaissance bereits einen Niedergang erblickte. Nicht nur architekturhistorisch sondern auch politisch und moralisch ging es nach 1472 (Ruskin datiert den beginnenden Zerfall aufs Jahr genau mit dem Tod des letzten Dogen im guten alten Sinn) nur noch bergab, bis dann der Stadtstaat Venedig sang- und klanglos die Waffen vor Napoléon streckte. Der französische Kaiser entwaffnete die Stadt. Der Wiener Kongress schlug die Stadt dann Österreich-Ungarn zu, die aus den venezianischen Werften einen ihrer wichtigsten Stützpunkte für ihre Marine machte. Kurz vor Ruskins Besuch wurde die erste Eisenbahnbrücke nach Venedig gebaut, womit die Stadt ihren Charakter als unabhängiger Inselstaat in Ruskins Augen für immer abgeschrieben hatte. (Ruskin erblickte im Schicksal Venedigs – auch das schwingt bei seinen Ausführungen immer mit – ein Menetekel für Großbritannien. Dieses machte sich unter Königin Victoria gerade daran, eine mutatis mutandis vergleichbare See- und Weltmacht zu werden. Der nach Ruskins Meinung aber gleichzeitig schon einsetzende moralische Zerfall liess ihn Schlimmes für seine Heimat ahnen. Er war zur Zeit der Abfassung von The Stones of Venice noch gläubiger Christ der orthodox-protestantischen Sorte. Er sollte später Atheist werden und im Alter wieder zum Glauben zurückfinden. Habent sua fata auctores.)

Warum aber war die – wie er zugibt: stark mit byzantinischen Elementen vermischte – Gotik Venedigs für Ruskin der Gipfel der Baukunst? Hier trifft er sich mit der präraffaelitischen Bewegung. In der Gotik, nahm er an, gab es noch keine eigentlichen Baumeister, die ahnungs- und hilflose Arbeiter anleiteten, sondern diese Arbeiter waren eigentliche Künstler auf eigene Rechnung. Mit der Änderung der politischen Verhältnisse in Venedig ging das verloren. Ruskin war mit dieser These so überzeugend, dass er sie sogar für einen Neubau eines britischen College testen durfte. Er ließ eine Handwerkerfamilie aus Irland kommen, die freie Hand erhielte. Leider stellte es sich heraus, dass ihre Arbeitsmoral nicht die beste war – und was sie an Verzierungen an den Säulen anbrachten, waren Fratzen und Affengesichter, oder dann derart bösartige Karikaturen der College-Professoren, dass man diesen Statuen die Köpfe abschlagen ließ. Was Ruskin übersehen hatte, die Präraffaeliten aber wussten: Es braucht eine Art gelehrter (oder mindestens speziell geschulter) Handwerker, wie William Morris einer war und sie auch für seine handwerklichen Unternehmungen suchte. (Morris hat übrigens in seiner Kelmscott Press – natürlich mit speziell verfertigten Lettern – ein Kapitel aus den Stones of Venice veröffentlicht.)

Was aber bleibt von Ruskin jenseits seines Einflusses auf die Architektur (und, aber eher ephemer, die Literatur) des viktorianischen Zeitalters? Jenseits Großbritanniens? Für in der Weltliteratur Belesene natürlich sein Einfluss auf Marcel Proust. Der war von Ruskins Beschreibungen derart angetan, dass er sogar versuchte, ihn aus dem Englischen zu übersetzen. Proust scheiterte grandios – seine Englischkenntnisse genügten schlicht nicht. Aber wenn wir heute das in meiner Auswahl als siebtes Kapitel figurierende The Nature of Gothic lesen, das Kapitel also, das auch Proust am meisten beeindruckt hat, wird man plötzlich an jene Erklärungen denken, die der Maler Elstir in einer anderen gotischen Kirche, in Frankreich, dem noch jungen Ich-Erzähler von der Suche nach der verlorenen Zeit gibt. Nicht den Inhalt, aber die Technik der Beschreibung, den gesamten Ton, hat Proust fast 1:1 von Ruskin übernommen.

Und es ist so: Nur schon für dieses siebte Kapitel lohnt die Lektüre. Auch für Nicht-Kunsthistoriker und in der Hochgebirgs-Literatur eher Unbewanderte. Denn Ruskin schrieb auch für das so genannte ‚große Publikum‘.

2 Replies to “John Ruskin: The Stones of Venice [Die Steine von Venedig]”

  1. E.H. Gombrich erwähnt Ruskin in seinem Buch „Die Geschichte der Kunst“. Ich kannte Ruskin auch bereits aus Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Ruskin setzte sich sich stark für die Prä-Raffaeliten ein, die Gombrich als sich auf einem falschen, weil bald endenden Weg einstuft. Und er erwähnt Ruskins öffentliche Herabsetzung von James Whistler, wegen der dieser dann klagte:

    > Not everyone celebrated this development, as Gombrich explains. In 1877 Whistler exhibited his Nocturnes, asking 200 guineas for each. John Ruskin, the great critic who had championed Turner and the Pre-Raphaelites, wrote ‚I have never expected to hear a coxcomb ask two hundred guineas for flinging a pot of paint in the public’s face.'“

    Seitdem mag ich Ruskin nicht mehr so sehr, ehrlich gesagt. Hatte geplant, mir The Stones of Venice zu beschaffen, aber verfolge diesen Plan nicht mehr aktiv.

    Interessante Frage am Rande: Wenn Prousts Englisch so schlecht ist, daß er Ruskin nicht übersetzen kann, wie konnte er dann Ruskin im Original überhaupt lesen, um erst auf diese Idee zu kommen?

    1. Ich kann nun nicht für Proust antworten. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man einen Text so weit versteht, dass man ihn gern übersetzen möchte – um dann zu merken, dass der Teufel im Detail steckt. Ich vermute, Proust erging es ähnlich.

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