Ficino war einer der grossen Platon-Übersetzer und -Kommentatoren des Humanismus. Über die Liebe ist weder Übersetzung noch Kommentar, sondern von beidem etwas. Vor allem ist dieses Werk ein Kommentar zu Platons berühmtem Gastmahl. Ein Kommentar eigener Art allerdings, indem Ficino hier Form und Inhalt des platonischen Gastmahls nachahmt: Freunde treffen sich, um bei einem Gastmahl über Platons Werk zu sprechen, dies in Form von (wie wir heute sagen würden) Kurzreferaten, in denen einzelne Teilnehmer des Ficino’schen Gastmahls über die Diskussionsbeiträge des platonischen Gastmahls referieren und sie interpretieren. Diese Kurzreferate enthalten so die ganze Platon-Interpretation Ficinos.
Im Zentrum aller Referate steht die Liebe, meist personifiziert angesprochen als antiker Gott Amor / Eros. Die erste Rede bringt eine Art Kosmogonie. Die Entstehung der Erde soll gem. Ficinos Platon-Interpretation aus drei verschiedenen, koexistierenden Chaos erfolgt sein. Das ist zwar eine schwierige Vorstellung, aber nur so kann Ficino von Anfang an das In- und Auseinander von Engelsseele, Weltseele und Welt exemplifizieren, das für seinen christlich-theologisch eingefärbten Platonismus bezeichnend ist. Eine genauere Präsentation dieses In- und Auseinanders liefert Ficino in der zweiten Rede, die theologisch gehalten ist (wobei der in der Fiktion anwesende Theologe sie – nicht hält!). Diese emanationstheoretische Interpretation Platons geht auf neuplatonische Quellen einerseits (Plotin, Liber de causis), auf Eruigena und Eckhardt andererseits zurück.
Die dritte Rede, die Ficino ursprünglich seinem Vater, einem Chirurgen, in den Mund legen wollte, ist naturphilosophisch-medizinisch. (Warum Marsilio letzten Endes seinem Vater den Auftritt weggenommen hat, weiss ich nicht, vielleicht, weil er dann doch fühlte, dass ein Chirurg – zu jener Zeit mit einer ganz andern, nicht universitären Ausbildung – sich gar nicht so gelehrt äussern dürfte, wie es für den vorliegenden Zweck notwendig war.)
Die seltsamen Gestalten, die im Original-Gastmahl dann Aristophanes vorführt, werden bei Ficino in Rede 4 psychologisch gedeutet. Der Mensch ist aufgrund seiner geistigen Freiheit dazu verdammt, alles mit Geist zu füllen. Hier greift Ficino teilweise auf Proklos zurück und wird zu einer Quelle der Würde des Menschen bei Pico della Mirandola. In der sechsten Rede wird das Schöne thematisiert. Das ist weniger eine Ästhetik im modernen Sinn, auch keine reine Ethik, wie das der Neuplatonismus, dem Ficino sonst ziemlich eng folgt, verlangen würde, wo das höchste Schöne auch das höchste Gute ist, sondern es finden sich Bemerkungen zu einer Theorie des menschlichen Liebens und Wahrnehmens.
In Rede 6 wird Sokrates‘ Diotima-Rede interpretiert. Eros, in damaliger Auffassung ein Dämon, wird in die Emanations-Lehre eingebettet als Vermittler zwischen niederer (menschlicher) und höherer (göttlicher) Welt: Und so haben wir in der Liebe zu Gott uns selbst geliebt.
Auffallend ist die am Schluss erfolgende Apotheose des Sokrates, der der beste und würdigste aller Menschen gewesen zu sein schein. Wenn die Teilnehmer des Ficino’schen Gastmahls könnten: Sie würden Sokrates heilig sprechen. (Ebenso auffallend: Eine Nennung des Epikuräers Lukrez – und zwar durchaus positiv konnotiert, selbst das Epitheton ‚Epikuräer‘ ist ganz eindeutig nicht pejorativ gemeint. Da deuten sich schon Entwicklungen an, die Ficino nur vage spüren konnte.)
Gelesen in der Ausgabe der Philosophischen Bibliothek des Verlags Felix Meiner, Hamburg (N° 642), 2014 mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Paul Richard Blum, unter Verwendung einer 1914, ebenfalls in der Philosophischen Bibliothek, zum ersten Mal erschienen Übersetzung von Karl Paul Hasse.