Gottfried Wilhelm Leibniz / Kurfürstin Sophie von Hannover: Briefwechsel

Beinahe 35 Jahre, von 1680 bis 1714, standen die Landesherrin und ihr Untertan in regelmässigem Briefwechsel. Worüber liessen sich denn die beiden – meist in höfischem Französisch – so intensiv aus? Die Antwort ist verblüffend einfach, weil verblüffend: über Familiäres. Allerdings etwas einseitig: Leibniz’ private Umstände kamen ein einziges Mal zur Sprache, als eine seiner Mägde sich (nicht von ihm!) ausserehelich schwängern liess. Ansonsten waren es Familienangelegenheiten der Kurfürstin, die behandelt wurden.

Nun befinden wir uns im Zeitalter des Absolutismus, und auch wenn die deutschen Duodezfürsten nie die Machtfülle und den Glanz des französischen Louis XVI erreichten: L’état c’est moi! galt auch für sie. Familiäres der Kurfürstin von Braunschweig-Lüneburg zu diskutieren, bedeutete immer auch, Angelegenheiten des Kurfürstentums selber zu diskutieren. (‘Braunschweig-Lüneburg’ ist der offizielle Name jenes Kurfürstentums, das man im Volksmund nach der Residenz ‘Hannover’ nannte.) So geht es in diesem Briefwechsel vorwiegend um Staatsangelegenheiten von Braunschweig-Lüneburg, und Leibniz’ Briefe sind immer auch diplomatische Noten. Ob es zu Beginn um das militärische Avancement der Söhne von Sophie geht; später um die Streitereien um das Primogenitur-Recht, das in Braunschweig-Lüneburg eingeführt werden sollte, damit das Land zum Kürfürstentum erhoben werden konnte; danach um die Streitereien in Deutschland wegen dieser Erhöhung; zuletzt um die Ent- und Verwicklungen rund um die Konsequenzen aus dem englischen Act of Settlement, das im Gefolge der Glorious Revolution den katholischen König Jacob II. vom englischen Thron vertrieb, dessen protestantische Tochter Maria als Maria II. zur Königin kürte und alle katholischen Nachfahren Jacobs II. aus der Thronfolge ausschloss. Anne war Marias Schwester und folgte ihr auf den Thron. Nachdem Annes Kinder früh gestorben waren, wurde Sophie von Hannover, Tochter von Elisabeth Stuart und Enkelin von Jacob I., zur Thronfolgerin erhoben. 1630 geboren war sie ein Stück älter als Queen Anne (* 1665); sie starb aber tatsächlich nur 3 Monate vor ihr, wäre also um ein Haar Königin von England und Schottland geworden. So wurde es ihr Sohn als Georg I. Jedenfalls aber waren die diplomatischen und politischen Verwicklungen Stoff genug für so manchen Brief zwischen Sophie und ihrem ersten Diplomaten.

Nicht, dass Leibniz nur lieferte. Er erhielt sehr wohl auch zurück. Vor allem wandte er sich immer wieder an Sophie, wenn sein Fürst (zuerst Sophies Gatte, dann ihr Sohn) mit seinem Untertan unzufrieden war. Gründe hatten die Fürsten sehr wohl: Leibniz, detailversessen und akkurat, brachte die versprochene Geschichte der Welfen zu keinem Abschluss, und hin und wieder absentierte er sich ohne Urlaub aus dem Dienst und machte kleinere oder grössere Reisen, die persönlichen Zwecken dienten. Und jedes Mal wandte er sich an Sophie, die die Wogen zu glätten verstand.

Philosophisches oder Mathematisches finden wir wenig. Erwähnungen von Augustinus von Hippo oder Thomas von Aquin sind eher beiläufig. Leibniz betont seine Kontakte zu Arnaud – jedenfalls, so lange dieser noch lebt und Leibniz tatsächlich im Briefwechsel mit ihm steht. Schon mehr finden wir zur Physik, wo Leibniz die Ansichten Descartes’ zurückweist, ja – mehr als sonst – einem epikureisch-gassendischen Atomismus zuneigt und Lukrez lobt. Leibniz’ Atomismus steht in diesen Briefen in Zusammenhang mit seiner Monadologie und der Infinitesimalrechnung, die er beide ebenfalls der Kurfürstin näher zu bringen versucht. Sophie ist allerdings an diesen Themen wenig interessiert und gibt meist nur lakonisch zur Antwort, nichts zu verstehen von Leibniz’ Ausführungen. Eine Erwähnung von Ramon Llull (Leibniz schrieb Lully)und dessen Ars magna, mit der Llull alle Heiden von der logischen Richtigkeit und Überlegenheit des Christentums überzeugen zu können glaubte (und die Leibniz, der Ähnliches für den protestantischen Glauben im Sinne hatte, dessen logische Überlegenheit er dem englischen Parlament demonstrieren wollte – auch, um sich und Sophie dort einzuschleimen – zu ähnlichen Versuchen verführte), endete in der irritierten Gegenfrage, seit wann Lullismus etwas anderes als Musik sei. Sophie von Hannover kannte offenbar nur Jean-Baptiste Lully, den zeitgenössischen Komponisten.


Gottfried Wilhelm Leibniz / Kurfürstin Sophie von Hannover: Briefwechsel. Herausgegeben von Wenchao Li. Übersetzt von Gerda Utermöhlen † und Sabine Sellschopp. Göttingen: Wallstein, 2017.

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