Friedrich Schlegel, zitiert vom Herausgeber dieses Briefwechsels im Anhang, meinte in seinem Essay Über Lessing (1797/1801), Lessings Größe habe vor allem in seiner »Individualität« gelegen, und für deren Studium sei der eine oder andere von Lessings Briefen »mehr wert ‹…› als manches seiner berühmtesten Werke«.
Eigentlich 1987 als Band 11/I einer Ausgabe von Lessings Werken und Briefen in 12 Bänden beim Klassiker-Verlag erschienen, herausgegeben von Helmut Kiesel et al., umfasst Briefe von und an Lessing 1743-1770 den gesamten Briefwechsel dieser Epoche in zeitlicher Reihenfolge. Das beinhaltet jeweils auch Hinweise auf nicht mehr überlieferte, aber aus andern Dokumenten (meist andern Briefen) Erschlossenes. Ein kurzer Essay des Herausgebers und ein ausführlicher Stellenkommentar runden Band 11/I ab. Die Rechtschreibung wurde harmonisiert, wenn auch nicht ganz an den Stand von 1987 herangeführt. Keine kritische Ausgabe also (es fehlen dazu auch die Hinweise auf den aktuellen Standort der Originale, auf Erst- und andere wichtige Veröffentlichungen, auf Emendationen und Korrekturen), sondern eine Leseausgabe fürs grössere Publikum. Leider ist das Personenverzeichnis etwas rudimentär geraten.
Bei der Lektüre in zeitlicher Reihenfolge fällt sofort ins Auge, wie rasch und wie intensiv sich der junge Mann aus der Oberlausitzer Provinz, ohne richtiges Studium und ohne eigentlichen Beruf, mit den Grössen des damaligen literarischen und kulturellen Lebens Deutschlands in Verbindung setzt und sich als Autor, Kritiker und Übersetzer mit ihnen auf Augenhöhe misst. Einer der ersten Briefe dieser Ausgabe, nebst den Familienbriefen, stammt von Voltaire, der den jungen Mann darum bittet, ein bestimmtes seiner Werke nicht ins Deutsche zu übersetzen, sei er (Voltaire) doch gerade damit beschäftigt, es grundlegend zu überarbeiten. Auch mit den Hauptvertretern jener Bewegung, die wir heute als ‚Berliner Aufklärung‘ kennen – also mit Nicolai und Mendelssohn – war Lessing schon früh in Kontakt. Und wenn Friedrich Schlegel, um nochmals auf ihn zurück zu kommen, sich wunders was einbildete auf die romantische Fähigkeit, zu symphilosophieren, so muss festgestellt werden, dass das Phänomen einer in intensiven gemeinsamen Gesprächen ebenso wie in intesivem Briefwechsel entwickelten ästhetischen Theorie schon bei der Trias Lessing-Mendelssohn-Nicolai erscheint. Die ganze Auseinandersetzung Lessings mit Winckelmann, der ganze Laokoon, aber auch Mendelssohns eigene Theorie, findet sich in nuce schon in den Briefen der damals rund 25 Jahre alten Freunde. Und natürlich redeten und schrieben sie nicht nur über Winckelmann, sondern auch über die ästhetischen Theorien eines Baumgarten, eines Shaftesbury, eines Rousseau oder eines Hutcheson. Aristoteles‘ Poetik wurde – immer mit Bezug auf existierende und aktuell Furore machende Dramen und Werke von Pope, Corneille oder Addison – auseinander genommen, neu zusammengesetzt, ergänzt.
Doch die Liste von Lessings Briefpartnern umfasst noch andere Namen. Da ist jener berühmte Schlegel-Bruder, Johann Adolf, der Onkel der heute bekannteren August Wilhelm und Friedrich, der zusammen mit deren Vater zu seiner Zeit schon den Namen ‚Schlegel‘ in der deutschen Literatur bekannt gemacht hatte. Da ist ein weiterer Verwandter eines heute berühmten Dichters, Ewald Christian von Kleist. Und da sind andere Namen aus dem Kreis der Aufklärer und Empfindsamen: Ramler, Kästner, Weiße, Gleim, Heyne, Gerstenberg.
Ende der 1760er, Anfang der 1770er Jahre, kommt Lessing über seinen Laokoon in Kontakt mit Herder, dessen Kritische Wälder sich u.a. auch mit Lessings ästhetischer Schrift auseinander setzen. Lavater erscheint zumindest indirekt, als die Berliner Freunde Lessing von dessen äusserst ungeschicktem Vorgehen gegenüber Mendelssohn berichten.
Lessing ist kein fleissiger Briefeschreiber. Sein Stil ist klar und durchdacht, auch wenn er sich im Tonfall den jeweiligen Gesprächspartnern anpasst. Schimpfwörter, Skatologisches oder Obszönes findet man bei ihm – im Gegensatz zum Stürmer und Dränger Bürger – kaum. Lessing schreibt und denkt kontrolliert und liest sich deshalb alles in allem ohne Anstrengung, was manchmal dazu führen kann, dass man Wichtiges überliest. Lessing war sich selber dieser Gefahr sehr wohl bewusst, aber er schrieb auch immer, um kritische Reaktionen im Gegenüber zu provozieren, aus denen er wieder lernen wollte. Er stellt somit als Briefeschreiber eine Art zweiten Sokrates dar. Und das macht seine Briefe bis heute zu einer faszinierenden Lektüre.