Hölderlin nicht erfahren, sondern ergehen: Am 6. Dezember 1801 brach nicht nur Seume zu seinem Spaziergang nach Syrakus auf; an jenem Tag (oder am Tag darauf, ganz genau weiss man es nicht) machte sich auch Friedrich Hölderlin auf. Nicht nach Syrakus zwar, und auch wenn er ebenso zu Fuß unterwegs war wie Seume, war seine Reise kein Spaziergang. Sie hatte ein ganz konkretes Ziel, Bordeaux, und wurde aus einem ganz konkreten Anlass gemacht: Hölderlin sollte oder wollte – einmal mehr – eine Hauslehrerstelle antreten in einem reichten Kaufmannshaus. Nur 3½ Monate später tauchte er zum Schrecken seiner Freunde als abgerissene Gestalt wieder in der Heimat auf. Offenbar völlig überstürzt – und abermals zu Fuß – hatte er sich auf den Heimweg gemacht. Es ist bis heute eines der großen Rätsel der Hölderlin-Forschung, wie er genau nach Bordeaux gekommen war, was er dort genau getrieben hatte, wie und warum er so überstürzt zurückmarschiert war.
Hölderlin und Seume waren freilich nicht die einzigen Dichter, die sich real oder in der Imagination im Winter auf dem Weg machten und durch Schnee und Eis quälten. Auch Büchners Lenz und Heinrich Heine, Wilhelm Müller und in seiner Folge Franz Schubert fanden gerade in der Winterreise die passende Szenerie für ihre psychologischen und politischen Erkundungen.
Und nun also im 21. Jahrhundert der Professor für Kulturwissenschaft und Kulturmanagement an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Thomas Knubben. Auch er marschiert im Winter los, dem mutmaßlichen Weg folgend, den zu Beginn des 19. Jahrhunderts Friedrich Hölderlin eingeschlagen hat. Das Buch, das daraus entstanden ist, ist sowohl Reisebericht wie Biografie, indem Knubben an wichtigen Stationen der Wanderung nicht nur seine Gegenwart beschreibt, sondern immer auch Hölderlin in der gleichen Gegend. Wir erfahren vom Jüngling in Tübingen, seiner Freundschaft mit Hegel und Schelling (und deren Begeisterung für die Französische Revolution – so, wie sich Hölderlin später zuerst für Napoléon begeistert hatte, zum Zeitpunkt der Reise den Korsen aber nun hasste und verachtete), von Hölderlins Plänen, eine eigene literarische Zeitschrift zu gründen (was ihm ein anderer Freund, Friedrich Schiller, ausredete, nicht ganz uneigennützig wohl, versuchte doch auch dieser mit Zeitschrift-Projekten Geld zu verdienen, und Konkurrenz war da ganz unnötig), aber auch noch von seinen Werken, die unmittelbar nach der Rückkehr verfasst wurden (es war ja keineswegs so, dass Hölderlin schon gleich zurück zu Hause verrückt geworden wäre – er zog sich zurück, aber seine Schaffenskraft war zunächst ungebrochen).
Knubben folgt Hölderlin von Nürtingen aus zu Fuss – Nürtingen, das damals noch bei Stuttgart lag, heute praktisch ein Teil davon ist, übers Elsass nach Lyon und von dort nach Bordeaux. Immer wieder sucht er unterwegs nach Spuren Hölderlins, in lokalen Archiven ebenso wie in der Architektur. Das ist quasi der offizielle Teil der Wanderung. Es gibt aber auch einen inoffiziellen, an dem uns Knubben ebenfalls teilhaben lässt: seine eigene Winterreise. Das Wetter, Kälte, Schnee und Regen, die ihn bis auf die Haut durchnässen; die verödende Provinz Frankreichs, Hotels und Restaurants, die seit Jahren schon geschlossen sind und ihn auf der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit oder einem Abendessen oft verzweifeln lassen; Begegnungen mit Freunden, der ihm nachreisenden Familie, ebenso wie mit Fremden (die manchmal sehr hilfreich sind, manchmal auch nicht); einmal isst er etwas, das ihm so gar nicht bekommt und seinen Magen auf Tage hinaus außer Gefecht setzt – er marschiert weiter, kann aber eine Zeitlang kaum etwas essen und magert bis auf die Knochen ab). Offiziellen und inoffiziellen Teil blendet Knubben immer wieder ineinander – so Gegenwart und Vergangenheit mischend. Nicht immer kann er Hölderlins vermutetem Weg ganz genau folgen: Autobahnen und Schnellstraßen stellen sich in den Weg und zwingen ihn zu Umwegen. Andererseits verirrt er sich auch einige Male, trotz Kompass. Nicht immer geht er zu Fuß: Der industrialisierten Banlieue grosser Städte weicht er aus, indem er mit der Straßenbahn bis zu deren Endhaltepunkt fährt. Wandern macht Durst, und so berichtet Knubben auch immer wieder vom Bierchen, das er am Abend als erstes zu sich nimmt. (Selten ist es Wein oder gar stärkere alkoholische Getränke; tagsüber nur Wasser.)
Schließlich kommt auch er, Knubben, in Bordeaux an. So, wie sich der Blick vor ihm weitet auf das Meer, weitet sich auch sein innerer Blick. Nicht nur von Hölderlin in Bordeaux erzählt er (wir wissen freilich kaum etwas darüber, was der Schwabe in Bordeaux getrieben hat), sondern auch von der fast gleichzeitig sich dort aufhaltenden Johanna Schopenhauer mit ihrem Sohn. (Wobei er seltsamerweise unerwähnt lässt, dass auch diese Mutter, ähnlich wie Mama Hölderlin, ihrem Sohn das väterliche Erbe vorenthalten wollte. Was bei Hölderlin glückte – und diesen zu ungeliebten Hofmeister-Jobs zwang – sollte sich Arthur nicht gefallen lassen.) Im Hafen sinniert Knubben beim Anblick eines grossen Denkmals darüber, dass so ein Denkmal hier zu errichten, viel angebrachter gewesen wäre für Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland; war es doch Bordeaux, war es doch dieser Hafen, wo nicht nur Hölderlin sicherlich das eine oder andere Mal spazieren war, sondern auch diese beiden zuerst wieder ihren Fuss auf europäischen Boden setzten nach ihrer großen Südamerika-Expedition – und dies nur wenige Jahre nach Hölderlins Aufenthalt daselbst.
Viel Neues über Hölderlin erfahren wir zugegeben nicht. Die eine oder andere Konjektur, welchen Weg er genau genommen haben könnte, versucht Knubben an Hand zeitgenössischer Karten oder Postkutschen-Fahrplänen zu machen. Auch die These, dass Hölderlin zurück reiste, weil er vom schlechten Gesundheitszustand oder gar vom Tod Suzette Gontards gehört hatte, lässt sich seiner Meinung nach durchaus vertreten. Wenn Hölderlin nicht direkt mit Suzette in Verbindung gestanden hatte (was tatsächlich unwahrscheinlich ist), so waren doch die Verbindungen der deutschstämmigen Kaufleute von Bordeaux zu ihren Kollegen v.a. in Hamburg intensiv – und die Hamburger wiederum wussten sehr wohl, was die Frankfurter Häuser umtrieb. Es genügte also unter Umständen sogar ein kleines, nebenbei gefallenes und gar nicht an Hölderlin gerichtetes Wort, um ihn von Suzettes Tod erfahren zu lassen.
Fazit: Amüsant und interessant. Auch wenn Knubben nach eigener Aussage von Bordeaux nicht mehr zurückmarschiert ist, sondern mit dem TGV reiste und so die Reisezeit von Wochen auf Stunden verkürzte. Reich illustriert mit zeitgenössischen Bildern der Orte, wo Hölderlin war oder Faksimiles von Dokumenten. In Farbe und auf qualitativ hochwertigem Papier.
Thomas Knubben: Hölderlin. Eine Winterreise. Tübingen: Klöpfer, Narr, 2019.
Mit dem besten Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar.