Thomas Mann: Doktor Faustus

Präludium: Mann vs. Goethe

Thomas Manns Doktor Faustus hat mit Goethes Faust-Dramen wenig zu tun. Thomas Mann geht im Gegenteil zurück auf das Volksbuch, das ja auch hinter Goethes Dramen steht.

(Natürlich kann sich der poeta doctus, der Mann nun einmal ist, der Anspielungen an Goethe nicht enthalten: Leverkühn – so heißt die Faust-Gestalt bei Mann – studiert in Leipzig Philosophie; dies, nachdem er vorher in Halle Theologie studierte. Dabei wohnt Leverkühn in der Nähe des Gebäudes, in dem die juristische Fakultät der Universität Leipzig untergebracht ist. Jus, Philosophie, Theologie: Hier haben wir ganz sicher – zumindest auch – ein Spiel mit jenem berühmten Satz vor uns, mit dem Goethes Faust beim Publikum eingeführt wird:

Habe nun, ach! Philosophie, // Juristerei und Medizin, // Und leider auch Theologie // Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.

Die Medizin fehlt? Nicht ganz, nein. Es gibt da die Momente, wo Leverkühn, der einer Prostituierten nachgereist ist, um sich bei ihr mit Syphilis anzustecken, in Leipzig nacheinander zwei Ärzte aufsucht, um sich zumindest von den Primärsymptomen heilen zu lassen.

Und nicht zu vergessen: Ähnlich wie Goethe hat sich Leverkühn ebenfalls einige Zeit in Italien aufgehalten. (Allerdings spielt dann vor allem München, wo Mann lange gewohnt hatte, mit seinen intellektuellen Zirkeln eine wichtige Rolle im Roman.)

Viel später, ganz am Ende des Romans, treffen wir auf jene seltsame Gestalt des Nepomuk Schneidewein, genannt Echo, die in ihrer altväterischen Naivität doch sehr an den Homunkulus erinnert – dessen Name ja nichts anderes bedeutet als „kleines Menschlein“ und somit genau so gut über den gerade mal fünf Jahre alten Nepomuk gesagt werden könnte. Der kleine Nepomuk ist ganz offensichtlich das „Echo“ jener andern Gestalt (einer anderen Gestalt also auch als Manns Enkel Frido, der hier meistens genannt wird). Wenn Homunkulus der Sohn von Faust mit Helena ist, so ist Nepomuk der Neffe Leverkühns, den dieser – quasi an Sohnes Statt – zu sich nimmt. Der Homunkulus wie Nepomuk sterben früh; sie sterben beide, bevor sie zu ‚richtigen‘ Menschen hätten werden können.)

Der eigentliche Teufelspakt in Doktor Faustus

Dass der Roman mehr ist als nur eine Neu-Gestaltung der alten Faust-Sage, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Der Teufelspakt Leverkühns und sein Untergang werden von Thomas Mann im Roman eng geführt mit dem ‚Teufelspakt‘, den die deutschen Politiker und das ganze Volk eingingen, als sie mit den Nationalsozialisten paktierten. (Er wird „eng geführt“, nicht 1:1 gleich gesetzt – so suchen wir zum Beispiel den realen Adolf Hitler vergebens in Thomas Manns Teufelsgestalten.) Erzähltechnisch läuft der Untergang Leverkühns parallel zum Untergang des Deutschen Reichs im Zweiten Weltkrieg.

Wobei es ein Zeichen der hohen erzählerischen Qualität Thomas Manns ist, dass die eigentlich Schuldigen am Teufelspakt des deutschen Volks gerade nicht Personen sind von der stolzen und egoistischen Art des Genies Leverkühn. (Tatsächlich scheint dieser die politischen Entwicklungen gar nicht zu registrieren. Selbst als Soldat wird er – anders als der Erzähler Serenus Zeitbloom – weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg eingezogen.) Und nun ist der Name gefallen dessen, der eigentlich für den Teufelspakt des deutschen Volks verantwortlich ist. Nicht Zeitbloom persönlich natürlich. Der ist nur ein Mitläufer – allerdings (zusammen mit den Millionen von andern Mitläufern) gerade durch seine Mitläuferschaft der eigentliche Täter. Es sind Leute wie dieser Zeitbloom, die sich (damals wie heute) Humanisten nennen, sich in der Antike wie in ihrem christlichen Glauben verankert fühlen, aber immer schon nationalistisch gedacht haben, und deshalb für jede Form von Rassismus anfällig sind und bleiben. Eine Einsicht darin fehlt aber Zeitbloom. Seiner Meinung nach bestand der allfällige Sündenfall (oder eben der Teufelspakt) wohl allenfalls im Umstand, dass die Nationalsozialisten eben zu sehr ‚Sozialisten‘ waren – mit anderen Worten: zu plebejisch. So kann sich Zeitbloom zwar nicht mit den Herrschenden identifizieren, er hat sogar seine Stelle als Gymnasiallehrer gekündigt und so etwas wie eine innere Emigration angetreten. Wenn er aber, parallel zu den Ereignissen um Leverkühn in der Vergangenheit, die Ereignisse des in seiner Gegenwart statt findenden Zweiten Weltkriegs schildert, so rutschen ihm immer wieder Pronomen wie ‚wir‘ heraus, er spricht von unseren Schiffen, die harmlose brasilianische Personenschiffe auf ihrer Antlantik-Überquerung versenkten – was er auf diese Weise ganz eindeutig gutheißt. Es sind Leute wie dieser Erzähler – und es mag sein, dass sich Mann ein wenig selber kritisiert dabei, wenn er jemand wie Serenus Zeitbloom zum Ich-Erzähler macht, denn auch er dachte lange daran, sich mit den Nazis zu arrangieren – diese Leute waren es also, die den Teufelspakt schlossen. Schlimmer: Ihn schlossen, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu werden. (Parallelen zu den aktuellen Ereignissen in Thüringen sind beabsichtigt.)

Zeitbloom und der Humanismus

Zeitbloom ist auf vielen Gründen so ziemlich der ungeeignetste Erzähler, wenn es um jemand geht wie Adrian Leverkühn. Es ist dem Zufall einer in die Studenten-Zeit und darüber hinaus verlängerten Sandkasten-Freundschaft geschuldet, dass er Adrian über weite Strecken seiner Laufbahn mehr oder weniger nahe begleiten kann. (Wobei ihm eines nicht auffällt: Der Teufelspakt, wie er ihn an Hand einer Aufzeichnung Leverkühns referiert, beinhaltet, dass sich dieser an keinen Menschen eng anschließen, ihn lieben, dürfe. Zwei Menschen – so Zeitblooms Interpretation – sterben, weil Leverkühn sie zu sehr liebte: Schwerdtfeger und Nepomuk. Er, der Jugendfreund, bleibt verschont. Was müsste er also daraus auf Leverkühns Gefühle zu ihm schließen? Nun, er schließt gar nichts.) Zeitbloom, der sich für einen Humanisten hält, eine Frau geheiratet hat, die Helena heißt (wobei er aber froh ist, dass sie gerade keine Helena ist), er, der nichts verstehen kann, das ein wenig übers Mittelmaß hinausrag, er steht dem Genie Leverkühn ratlos gegenüber:

Und doch ist nicht zu leugnen und nie geleugnet worden, daß an dieser strahlenden Sphäre [des Genies – P.H.] das Dämonische und Widervernünftige einen beunruhigenden Anteil hat, daß immer eine leise Grauen erweckende Verbindung besteht zwischen ihr und dem unteren Reich, und daß eben darum die verunsichernden Epitheta, die ich ihr beizulegen versuchte, »edel«, »human-gesund« und »harmonisch«, nicht recht darauf passen wollen, – selbst dann nicht – mit einer Art schmerzlichen Entschlusses stelle ich diesen Unterschied auf – selbst dann nicht, wenn es sich um lauteres und genuines von Gott geschenktes oder auch verhängtes Genie handelt und nicht um ein akquiriertes und verderbliches, um den sünd- und krankhaften Brand natürlicher Gaben, die Ausübung eines gräßlichen Kaufvertrages…

Und das schon auf der zweiten Seite des Romans! Seltsam genug ist, wie Zeitbloom immer wieder damit kokettiert, dass er eigentlich die unrechte Person sei, um Leverkühns Leben schildern zu können, weil eben dieser Leverkühn in seiner Genialität auf einer Stufe agiere, die er, der simple Gymnasiallehrer, nicht zu erreichen vermöge. Von daher bleibt es auch dahin gestellt, ob wir es ‚tatsächlich‘ mit einem Teufelspakt zu tun haben, oder ob das eine Erklärung ist, die sich Zeitbloom zusammen gestiefelt hat, weil er anders mit dem Phänomen Leverkühn nicht zu Rande kommen konnte. Was wir über den Pakt – angeblich von Leverkühn selber – wissen, könnte gerade so gut die Schilderung einer syphilitischen Halluzination sein.

Ein paar Bemerkungen am Rande

Es fällt auf, dass es sich bei Leverkühns Kompositionen in den meisten Fällen um Vertonungen von Gedichten handelt (aus der Divina Commedia von Dante (die auch für das Motto des Romans hergehalten hat), Texte von Blake und Verlaine, aber auch von Brentano und Klopstock), also Lieder, um Opern nach bestehenden Dramen (Shakespeare), um Oratorien (ein Marionettentheater nach den Gesta Romanorum unter Beibezug von Über das Marionettentheater Heinrich von Kleists, eine Apokalypse und natürlich darf auch das Volksbuch über den Doktor Faustus nicht fehlen), dass Leverkühn also offenbar nur wenig ‚reine Musik‘ komponiert hat. Ob da der ‚Wortmensch‘ Mann an der Einfühlung in den ‚Tonmenschen‘ Leverkühn gescheitert ist?

Die Zwölftonmusik, die Thomas Mann seinen Leverkühn ‚erfinden‘ lässt, stammt von Arnold Schoenberg, was Mann bei der ersten Veröffentlichung seines Romans unterschlug und somit sein Verhältnis zu Schoenberg so ziemlich zerstörte. (Mann hierin wie der Protagonist seines Romans: völlig ignorant und ignorierend, was die Gefühle anderer betrifft.) Ein späterer Nachsatz am Ende des Romans half dieser Beziehung nicht mehr viel.

Natürlich stammt einiges an Musiktheorie im Roman von Adorno, zum Teil sogar wörtlich (hier hatte Mann offenbar um Erlaubnis gefragt). Was meist unterschlagen wird: dass Thomas Mann sehr viele Informationen auch bei seinem Sohn Michael einholte, die dieser auch bereitwillig lieferte.

Dass Leverkühns Schicksal – die Ansteckung mit Syphilis und das schlussendliche Verdämmern in geistiger Umnachtung – bei Nietzsche abgeschaut wurde, braucht hingegen wohl keinen Hinweis. Man will auch im über allem liegenden Pessimismus Spuren Schopenhauers gefunden haben. Möglich ist’s, aber Schopenhauer ist für den Roman im Grunde irrelevant.

Irritierend die Sprache, die Thomas Mann seine Figur Nepomuk sprechen lässt. Es soll offenbar eine Art von mit Schweizerdeutschen Dialektismen durchzogenes Hochdeutsch darstellen. Ich weiss nicht, ob Mann jemand dazu konsultiert hat. Aber wenn Mann in der Schilderung des Teufelspakts das Frühneuhochdeutsche, die Sprache Luthers außerhalb seiner Bibel-Übersetzung, gut getroffen hat: Was Nepomuk spricht, hat mit keinem mir bekannten Dialekt des Schweizerdeutschen viel zu tun. Es ist eine Kunstsprache. (Vielleicht aber gewollt, um das Künstliche, an den künstlich erschaffenen Homunkulus Gemahnende, in Echo zu betonen?)

Last but not least: der Teufel

Wo ein Faust ist, muss auch ein Teufel sein. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass es sich bei der Schilderung des Paktes mit dem Teufel, die Zeitbloom den hinterlassenen Papieren Leverkühns entnimmt, nur um eine Nacherzählung eines Fiebertraums handelt, so ist diese Szene doch die einzige, in welcher der Leser Satan persönlich begegnet. (Alle anderen Gestalten, die Wikipedia als Inkarnationen des Teufels [meine Hervorhebung] behandelt, können eben so gut als Präfigurationen oder Allusionen durchgehen.) Dieser Satan im italienischen Fiebertraum nun ist ein Gestaltwechsler, der vom Luden (also einem Zuhälter) bis zum Intellektuellen alle Gestalten annehmen kann. Dabei fehlt ihm der genuin liberale Schliff, den Mephisto in Goethes Prolog im Himmel aufweist. Wie schon gesagt, ist Leverkühns Schilderung sprachlich ein Rückfall in die frühneuhochdeutsche Periode, so wie dieser Teufel als Ganzes einen Rückfall ist in Luthers Zeit darstellt. Es ist ein Teufel, der bei aller Eloquenz keinen Widerspruch zulässt, ja, den Pakt als de facto bereits geschlossen behandelt und nun nur noch über die finalen Konditionen informieren will. Und da gibt es kein Pardon, keine Konditionen, an Hand derer sich der paktierende Mensch noch aus den Konsequenzen herauswinden könnte wie Goethes Faust. Ganz im Sinne des alten Volksbuchs wird Leverkühn zum Schluss ohne wenn und aber von seinem Teufel geholt.

Dieser Teufel in seiner veralteten Form ist eigentlich ein Langweiler – was es umso erstaunlicher macht, dass (nein: nicht Leverkühn, sondern) Zeitbloom sich ihm so selbstverständlich unterwirft.

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