Langsam ziehe ich die Seriosität der neuen, sich als „kritisch“ anpreisenden Musil-Gesamtausgabe in Zweifel. Sie wollte eine kritische sein, ein Hybrid-Ausgabe allerdings – will sagen: Der Text wird vom Verlag Jung und Jung in Buchform geliefert, die kritischen Ergänzungen und Bemerkungen sollten auf der Internetseite musilonline.at auffindbar sein. Unterdessen ist es so, dass der Editionsplan mehrmals geändert wurde: Die ursprünglich in einem Band 7 vorgesehenen Selbständigen Veröffentlichungen waren plötzlich zwei Bände 7 und 8 (Bücher I und II respektive); die Unselbständigen Veröffentlichungen 1 und 2, also die Bände 8 und 9 des ursprünglichen Editionsplans wurden zu 9 und 10 und hießen im Haupttitel nunmehr In Zeitungen und Zeitschriften I und II respektive. Die Fragmente aus dem Nachlass, der ursprüngliche Band 10 fand sich nun als Projekte I und II in Band 11 und 12 aufgeteilt. Die ursprünglich vorgesehenen Bände 11 (Tagebuchhefte) und 12 (Korrespondenz) sollen, hieß es zumindest irgendwo einmal, außerhalb der Ausgabe veröffentlicht werden. Somit wäre aus der Gesamtausgabe, wie sie sich immer noch stolz auf dem Umschlag und dem Schmutzblatt nennt, eine simple kritische Werkausgabe geworden. Doch wir sind noch nicht fertig. Neulich ist nämlich der aktuelle Band 10 bei mir eingetroffen. Nicht Unselbständige Veröffentlichungen ab 1922 aber sind darin zu finden, wie es noch in Band 9 lautete, sondern nur noch die von 1922-1924. Der Editionsplan am Ende des Bandes weist denn auch plötzlich als Band 11 In Zeitungen und Zeitschriften III für den Rest aus und als Band 12 die offenbar wieder eingedampften Projekte. Einen Hinweis auf bzw. eine Begründung für die Änderung habe ich weder in Band 10 noch auf der oben genannten Webseite gefunden. Was mich insofern nicht sehr wundert, als auf dieser schon ab Band 5 kaum mehr kritische Angaben zu finden sind, ab Band 6 dann gar nicht mehr hinterlegt wurden. Was mich insofern nicht sehr wundert, als auf der Webseite das Copyright beim Jahr 2016 stehen geblieben ist, was wohl in etwa dem Jahr der letzten Einträge entspricht. (Ich frage mich, nebenbei gesagt, auch, ob es nicht das Volumen an unselbständigen Veröffentlichungen reduziert hätte, wenn man Doubletten – also ähnliche oder gar die gleichen Texte, die sowohl in einem Buch und in einer Zeitschrift veröffentlicht wurden, oder Texte, die bereits in den kritischen Materialien zum Mann ohne Eigenschaften figurierten, in den nunmehr drei Bänden In Zeitungen und Zeitschriften weggelassen oder allenfalls mit einer Stellenangabe des ersten Abdrucks in der Ausgabe und weiter nichts aufgeführt hätte. Vieles, zu vieles ist in diesen Bänden doppelt oder gar mehrfach.)
Summa summarum: Wir haben seit längerem an Stelle einer kritischen (Hybrid-)Gesamtausgabe der Werke Musils eine simple (und nicht einmal sauber redigierte) Werkausgabe vor uns …
Item.
Was bringt denn nun Band 10 tatsächlich? Musil, der in den Jahren 1922-1924 selbständiger Schriftsteller war (sein musste), verdiente in dieser Zeit sein Geld vorwiegend mit Theaterkritiken. Er schrieb über Wiener Aufführungen (meist für Prager Zeitungen und Zeitschriften). Seine ganz großen Idole als Autoren sind (natürlich) Shakespeare und Goethe (dessen Stella er hoch schätzt). Büchner ist immer wieder Ausgangspunkt für seine Bemerkungen zu neuen Autoren. Dennoch fällt auf, dass er sich zu den Expressionisten nicht völlig zustimmend äußern kann – zu den Symbolisten aber auch nicht. Am ehesten – aber auch da argumentiert er nicht ohne Kritik – scheint er die Naturalisten zu mögen. Ausländische, vor allem französische Autoren findet er im Schnitt besser als deutschsprachige. Raimund ist für ihn veraltet, Schnitzler oft zu preziös in der Sprache. Seine eigene Sprache ist in diesen Kritiken meist hoch ironisch. Ähnliches gilt für die ebenfalls vorkommenden, wenn auch selteneren, Kunstkritiken Musils oder – einziger seiner Art – den Nachruf auf Robert Müller, der 1924 Selbstmord begangen hatte.
Daneben finden sich – schon fast Fremdkörper im Musil’schen Textkorpus – ein paar naturwissenschaftliche Aufsätze für eine Militärzeitschrift: über Psychotechnik (tönt nach Science Fiction, meint aber einfach nur pschologische Methoden, Fähigkeiten der Menschen zu testen, zum Beispiel für Personalentscheide), Schifffahrt oder Medizin. Und ein „Rant“, wie wir heute sagen würden, über die wenig benutzerfreundlichen Bibliotheken mit ihren nur alphabetisch nach Autor sortierten Karteikarten. Ein Beitrag zum frühen Stummfilm, wo Musil offenbar den Slapstick sehr mochte und das Ganze mit Wilhelm Busch verglich (den er dann aber vorzog).
Wie immer in solchen chronologisch geordneten Text-Sammlungen: Man muss die Preziosen suchen. Und nicht jeder wird das gleiche als wertvoll betrachten.
Die Kritik ist in ihrem Kern höchst zutreffend: Das System, das diese Leseausgabe in eine moderne kritische Ausgabe verwandeln würde, existiert immer noch erst im Kopf des Herausgebers, sagt dieser. Warum das so ist? Fragen Sie die verantwortlichen fördernden Institutionen! Der Herausgeber liegt derweilen unter sechzehntausend Seiten Quellen und mehr als einer Million Annotationen begraben.