Dass Friedrich Glauser sich bei der Erschaffung seines Wachtmeister Studer in vielem an der Figur des Maigret von Georges Simenon orientierte, hat er selber zugegeben. (Das ist auch kein Kapitalverbrechen, nicht einmal in der Literatur. Glauser ist es durchaus gelungen, seinem Wachtmeister ein eigenständiges Profil zu verpassen.) Dass die beiden auch in Hinsicht dessen in vielem übereinstimmten, was und wie ein Kriminalroman zu sein habe, lässt sich aus ihren Briefen und anderen Dokumenten herauslesen. Dennoch waren die beiden nie in persönlichem Kontakt. Glauser war wohl zu schüchtern und mit anderen Problemen beschäftigt, um Simenon auch nur einen Brief zu schreiben; der Belgier hingegen wusste wohl nicht einmal um die Existenz des Schweizers. Was aber, wenn sich die beiden nicht nur geschrieben, sondern sogar in Fleisch und Blut getroffen hätten? Aus dieser Frage heraus entwickelt Ursula Hasler den vorliegenden Roman.
Um dieses Treffen für ihr Buch möglich zu machen, musste die Autorin ein paar Hindernisse bei Seite räumen. Der Zeitraum, in dem so ein persönliches Treffen möglich gewesen wäre, ist relativ kurz. Im Herbst 1937 lebten die beiden aber für ein paar Monate in nicht zu großer Entfernung voneinander in Frankreich. Als erstes ließ Hasler den belgischen Autor in einem relativ mondänen Seebad zusammen mit seiner an Depressionen leidenden Frau Erholung suchen, nämlich im Hôtel de la Plage in Saint-Jean-de-Mont an der Atlantikküste, südlich der Bretagne. (Dass Simenon in jenem Jahr auf der Flucht vor dem bisher geführten mondänen Leben in Paris war, ist biografisch bestätigt. Dass er sich je in Saint-Jean-de-Mont, auch nur Urlaubs halber, aufgehalten hätte, hingegen nicht.) Das liegt nun nahe genug an jenem anderen Seebad La-Bernerie-en-Retz, in dem seinerseits Glauser mit seiner Freundin Berthe Bendel seit März 1937 lebte und schrieb. Nachdem Glauser dort einige Zeit glücklich war und vorankam, stockte sein Schreiben seit einiger Zeit. Er arbeitete praktisch gleichzeitig an einer Überarbeitung seines zweiten Romans Die Fieberkurve, während sein dritter Roman (Matto regiert) bereits erschienen war und er an einem Fortsetzungsroman für die Zeitschrift Der Beobacher schrieb (Die Speiche, später in Buchform erschienen unter dem Titel Krock & Co.). Zu dieser Überlastung hinzu kam der Umstand, dass das Pärchen praktisch kein Geld mehr hatte. Es harzte und klemmte an allen Ecken und Enden, und wie immer, wenn die Schriftstellerei bei Glauser stockte, griff er zu Drogen – vorwiegend Opium und Opiumderivaten. Nur: Woher diese nehmen? Soweit stimmt Haslers Roman mit der biografischen Realität Glausers überein. Ihre Erfindung ist es nun, dass in Saint-Jean-de-Mont auch der Schweizer Arzt Doktor Schöni logiert. Glauser hört davon und beschließt, das letzte Geld zusammen zu kratzen und mit der Bahn nach Saint-Jean-de-Mont zu fahren, um den Arzt um ein Rezept für Opium zu ersuchen. Gesagt, getan. Er findet den Arzt auch, der aber weigert sich, ihm ein Rezept auszustellen – unter anderem mit der wohl nicht unrichtigen Begründung, dass das Rezept eines Schweizer Arztes in Frankreich kaum akzeptiert würde. Als eine Art Wiedergutmachung für diese Weigerung stellt ihn Schöni seinem Bridgepartner Simenon vor. Nach einem ersten Moment des Fremdelns finden die beiden Gefallen aneinander und beginnen, sich über die Funktion und Bauweise von Kriminalromanen zu unterhalten. Irgendwann schlägt Simenon dann vor, das Ganze nicht nur in der Theorie zu diskutieren, sondern sich zusammen einen kleinen Kriminalroman auszudenken.
Damit verlassen wir die Rahmenerzählung fürs erste, denn nun folgt als Binnenerzählung der erste Teil dieses Kriminalromans – erfunden von Simenon. Das erste Problem, das die beiden zu lösen haben, ist das des Schauplatzes. Simenon schlägt vor, unter einem anderen Namen (um nicht allzu sehr durch die Realität eingeschränkt zu sein) gerade das Seebad zu nehmen, in dem sie sich gerade befinden und das Hotel, in dem sich Simenon aufhält. Glauser ist damit einverstanden, und nun stellt sich das zweite, schwierigere Problem. Dass ein Mord stattfindet, ist klar – aber wer soll auf jeder Seite (Simenon und Glauser) ermitteln? 1937 war der Zeitpunkt, als der echte Simenon seinen Kommissar Maigret gerade in Rente geschickt hatte, und Ursula Hasler hält sich auch für ihren fiktiven Simenon daran. Selbst für eine nie veröffentlichte Geschichte will ihr Simenon seinen Maigret nicht aus der Besenkammer zurück holen. Er muss also eine neue Figur erfinden. So entsteht Amélie Morel, ihres Zeichens eigentlich Krankenschwester, hat aber zuletzt über längere Zeit als Privatpflegerin einen alten Mann begleitet. Der ist nun verstorben und hat ihr ein kleines Legat hinterlassen. Ihr Neffe schlägt ihr vor, zunächst einmal damit ein paar Tage so richtigen Luxusurlaub zu machen – am besten im Hôtel de la Plage in Saint-Jean-de-Mont, das in Simenon-Glausers Geschichte Saint-Georges heißt. Das hat den Vorteil, dass das kleine Städtchen im Zuständigkeitsgebiet des Polizeiinspektors Picot liegt, der zugleich Amélies Neffe ist. Da dann Simenon auch noch den Toten und mutmaßlich Ermordeten einen Gast des gleichen Hotels sein ließ, war gesichert, dass auch Amélie, trotz der Tatsache, dass sie lupenreinen Amateurstatus besaß, in den Fall verwickelt werden konnte.
An diesem Punkt kehrt Ursula Hasler zurück in die Rahmenerzählung, in der sich Simenon und Glauser darüber unterhalten, wie wichtig Atmosphäre für einen Roman ist, auch einen Kriminalroman, und wie wenig jene „Kriminalromane“ wert sind, die nur über einen quasi mathematisch errechneten Plot verfügen mit einer ebenso mathematisch zu findenden Lösung. Dann ist es an Glauser, die Geschichte weiterzuspinnen.
Glausers Problem nun wiederum ist es, dass er zwar mit Wachtmeister Studer einen aktiven Polizisten in petto hat. Der aber sitzt in Bern. Um ihn nach Saint-Jean-de-Mont verfrachten zu können, muss er zunächst aus dem toten Amerikaner Montgomery Miller einen Amerikaschweizer Montgomery Robert Miller machen, verheiratet mit der Tochter eines der einflussreichsten Berners, ja Schweizers. Der nun fordert ultimativ, dass die Untersuchungen zum Tod seines Schwiegersohns nicht den französischen Behörden überlassen werden, sondern dass die Berner Kantonspolizei ihren besten Mann dorthin schicke. Das ist dann (und diese Sätze sind 1:1 aus der Fieberkurve kopiert, was Ursula Hasler auch in ihrem Nachwort zugibt – nur durch verstecktes Zitieren habe sie sicherstellen können, dass bei Simenon wie bei Glauser die Authentizität ihrer Diskussionen und ihren improvisierten Kriminalromans garantiert sei) natürlich der Wachtmeister Studer. (Dass dieser Schwiegervater gleichzeitig alles unternimmt, um zu verhindern, dass in Frankreich überhaupt eine Untersuchung stattfindet, und damit sogar Erfolg hat, ist wohl das größte und schlimmste „Plot-Hole“, das sich die Autorin leistet.)
Nun hat auch Glauser seinen Fahnder vor Ort, und in stetem Wechsel zwischen Rahmenerzählung (= theoretischen Diskussionen über das Schreiben an sich und das Schreiben von Kriminalromanen) und eigentlichem Krimi geht das Buch dann weiter. Diese beiden Ebenen sind vom Verlag auch in der Gestaltung des Buchs hervorgehoben worden: Die Seiten, auf denen diskutiert wird, sind ein einem etwas gräulichen Farbton gehalten. Allerdings fällt unter der Lektüre der Unterschied kaum auf.
Der Titel von Ursula Haslers Roman, Die schiere Wahrheit, bezieht sich dann auf den Abschluss des Falls und auf die letzte und heikelste theoretische Auseinandersetzung der beiden fiktiven Autoren. Der fiktive Simenon formuliert die Fragestellung so:
Darf ein Kriminalroman-Kommissar der Gerechtigkeit helfen und nicht dem Recht? Oder anders gefragt, darf ein Studère oder ein Maigret Indizien nicht beachten oder verschweigen, sodass ein bemitleidenswerter Täter nicht verhaftet und verurteilt wird? Aber der Leser wüsste von diesen Indizien, damit er die Gewissensbisse des Kommissars verstünde …
Hier öffnet Hasler einen nachgerade philosophischen Ausblick auf den Kriminalroman. Im vorliegenden Roman allerdings sitzt Simenon im falschen Boot, insofern nämlich als seine Amélie Morel in ihrer Eigenschaft einer nicht beamteten und bestallten Ermittlerin jederzeit tun oder lassen kann, was ihr das Gewissen eingibt. (Nicht nur hier, sondern auch, was die von Hasler und ihren beiden Autoren so hoch gehaltene Authentizität und Atmosphäre betrifft, ist es bedauerlich, dass sich die Autorin verpflichtet fühlte, den vom realen Simenon zu der Zeit verbannten Maigret in seiner Verbannung zu belassen. Simenon bleibt dadurch für mich in diesem Buch bedeutend weniger greifbar als Glauser.) Amélie Morel behilft sich im vorliegenden Fall tatsächlich damit, dass sie ihrem Gewissen nachgibt und die Wahrheit nicht kund tut. Studer hingegen greift zum kasuistischen Trick, sich zu sagen, dass der Fall sich mit der Schlusspointe derart verändert habe, dass es nicht mehr der sei, um dessen Willen er nach Frankreich beordert worden sei, er also nicht mehr verpflichtet sei einzugreifen.
Alles in allem ist zu sagen, dass vor allem die zweite Ebene der vorliegenden Erzählung, der Kriminalroman, den Simenon und Glauser zusammen spintisieren, nur langsam Fahrt aufnimmt. Das ist zwar in Übereinstimmung mit den theoretischen Diskussionen der beiden Autoren auf der ersten Ebene, dass zuerst eine Atmosphäre aufgebaut werden soll (und offenbar hält sich Hasler ihrerseits an diese Vorgabe!), aber ein bisschen mehr Tempo hätte hier nicht geschadet. Dennoch habe ich mich gut amüsiert, und der Roman sollte Pflichtlektüre werden für alle Fans von Maigret und vor allem vom Wachtmeister Studer.
Kleines Detail am Rande, das aber zeigt, dass Ursula Hasler im Großen und Ganzen ihren Roman sehr sorgfältig komponiert hat: Wachtmeister Studer in der Binnenerzählung hat vergessen, genügend Brissagos für seinen Aufenthalt in Saint-Jean-de-Mont einzupacken. Ohne an einer solchen zu ziehen, kann er aber nicht denken. Seine Frau Hedy, die auch mitgereist ist, löst dieses Problem, indem sie ihrem Schwiegersohn, dem Polizisten im Appenzell, telefonisch den Auftrag gibt, eine Kurpackung dieser spezifisch schweizerischen Zigarren ins Bad zu schicken. Der Moment, als Studer dieses Paket erhält, ist auch in der Rahmenerzählung der Moment, als Glauser völlig unerwartet von einem französischen Berufskollegen des Doktor Schöni ein Rezept für Opium erhält. So was mag ich. Auch, dass der fiktive Glauser ebenso wie sein noch fiktiveres Geschöpf Studer bei der Hitze des Tages lieber Bier trinkt, der Belgier aber seinen Maigret (der ebenfalls am liebsten Bier trinkt) verrät, indem er andere alkoholische Getränke bevorzugt, zeigt sehr fein, den Unterschied zwischen dem oft künstlichen Simenon und dem realistischen Glauser. Und wenn dann Studer im letzten, alles entscheidenden Verhör auf der Polizeiwache tatsächlich belegte Brote und Bier kommen lässt, verwischen sich die Grenzen zwischen ihm und Maigret endgültig.
Ursula Hasler: Die schiere Wahrheit. Glauser und Simenon schreiben einen Kriminalroman. Zürich: Limmat Verlag, 2021. Umschlagbild: René Levrel, L’Hôtel de la Plage, 1930. [Wobei hier der Untertitel gerade nicht die Wahrheit enthält: Die beiden schreiben ihren Kriminalroman nicht auf – sie erzählen ihn sich gegenseitig beim Spaziergang durch das Städtchen oder in den Dünen. „Basteln“ wäre hier das treffendere Wort gewesen.]