Novalis: Fragmente und Studien / Die Christenheit oder Europa

Schon sehr früh hat sich von Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, der sich als Schriftsteller Novalis nannte, das Bild des ätherischen jungen Mannes mit der Blauen Blume geformt, der seiner früh verstorbenen, blutjungen Verlobten (seinerseits ebenfalls noch sehr jung) nachgestorben ist. Dieses Bild hat sich bis heute gehalten. Nicht ganz unschuldig an diesem Bild sind die beiden Freunde und Co-Frühromantiker Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck, die nicht nur Hardenbergs literarischen Nachlass bestellten, sondern denen er zu Lebzeiten schon die Veröffentlichung auch seiner theoretischen Schriften überließ. Über diesem Bild geht ganz vergessen, dass Hardenberg als einziger der Frühromantiker über eine solide naturwissenschaftliche Ausbildung verfügte. Die Bergakademie in Freiberg, wo er studierte, war zu seiner Zeit die erste Adresse für solche Studien auf Hochschulniveau. Unter seinen dortigen Lehrern finden wir zum Beispiel Abraham Gottlob Werner, bei dem ein paar Jahre früher auch Alexander von Humboldt studiert hatte.

Philosophisch war Novalis allerdings dann leider – wie fast alle hellen Köpfe seiner Zeit – vom Fichte’schen Virus der Wissenschaftslehre mit seiner Einverleibung des Nicht-Ich ins Ich (also der Natur in den (Geist des) Menschen) angesteckt und von ähnlichen naturphilosophischen Gedanken Schellings. Die Lektüre des mystischen Schusters Jakob Böhme tat ein Übriges. Erschwerend beim Versuch, den Theoretiker Novalis zu verstehen, ist weiter der Umstand, dass er – in der Manier der Frühromantiker – kaum lange, und schon gar keine theoretisch-systematischen Abhandlungen verfasste, sondern sich meist in kurzen, zum Teil aphoristisch gehaltenen Texten äußerte, den so genannten Fragmenten. Dabei ist es nicht unwichtig, festzuhalten, dass Hardenbergs Begriff des Fragments von demjenigen Friedrich Schlegels abweicht. Eine Abweichung, die von letzterem, der die Hardenbergs als erster unter dem Titel Blütenstaub bearbeitete und herausgab, trotz des Titels eingeebnet wurde. Während für Schlegel ein Fragment eine Art Igel war, an dessen Stacheln sich die Lesenden abzuarbeiten hatten, war Hardenbergs Konzeption organischer, naturwissenschaftlicher:

Die Kunst Bücher zu schreiben ist noch nicht erfunden. Sie ist aber auf dem Punkt erfunden zu werden. Fragmente dieser Art sind literärische[!] Sämereien. Es mag freilich manches taube Körnchen darunter sein – indes wenn nur einiges aufgeht. [Vermischte Bemerkungen, 104]

Was für Schlegel also auktorielle Absicht war, und wo dahinter die Ansicht steht, dass der Autor wohl weiß, aber nicht sagt, ist es bei Novalis das versuchsweise Aussprechen einer These, die weiter entwickelt werden kann und muss – ein naturwissenschaftlicher Ansatz also.

Man hat Novalis oft und gern einer reaktionären Politik zugeordnet – das vor allem wegen seiner Äußerungen im einzigen größeren Essay, den er verfasst hat: Die Christenheit oder Europa. Auch hier ist zunächst zu sagen, dass Schlegel und Tieck (auf Anraten Goethes übrigens, den sie beizogen) zu Lebzeiten Hardenbergs auf eine Veröffentlichung des Textes verzichteten, und ihn auch nach seinem Tod nur in Bruchstücken publizierten. Selbst der Titel wurde – man weiß nicht, von wem – geändert. Bei Novalis lautete er einfach Europa. Das entspricht denn auch dem Inhalt besser. Sicher: Der Essay beginnt mit dem Bild eines friedlich unter der Herrschaft des Papstes vereinten Europa. Das ist historisch wenig korrekt, aber ich denke, Novalis ging es hier um ein Prinzip der Geschichte, nicht um eine historisch richtige Darstellung des Mittelalters. Immerhin nannte Novalis den Text eine Rede, nicht eine „Abhandlung“! Im Verlauf der Geschichte nach Novalis werden Papst und Klerus selbstzufrieden und provozieren so Luther und die Reformation. Die Zerstörung der Einheit der Kirche ist für Novalis auch eine Zerstörung der Einheit Europas. Die Gegenreformation wird zunächst befürwortet; aber auch diese scheitert an Mangel an Phantasie. Ähnliches gilt für die Aufklärung. Die Französische Revolution fasst Novalis als eine neue, grundlegendere Reformation auf und hofft, dass sie – vom französischen in den deutschen Geist übertragen – zu einer neuen Einigung Europas führt. Das Geschichtsverhältnis in dieser Rede beruht auf der Vorstellung, dass Geschichte ein Wechsel von entgegengesetzten Bewegungen ist. Ein Wechsel von Suche nach Ideal und Realität, aber in der Art, dass die Nähe zum Ideal immer größer wird. Der Sprecher der Rede fordert daher die Hörer auf, bereit zu sein für die Wiedergeburt des goldenen Zeitalters. (Daran, dass dieser Schluss – zusammen mit der Idee einer Übertragung der Französischen Revolution auf den deutschen Geist – von den Nationalsozialisten auf ihre eigene Machtübernahme umgedeutet wurde, ist Novalis ebenso wenig schuld, wie am Umstand, dass man in seiner Darstellung des katholischen Mittelalters eine Glorifizierung des Katholizismus überhaupt zu finden glaubte. Anders als Friedrich Schlegel hat Novalis nicht zum katholischen Glauben konvertiert; und ich bin überzeugt, dass er es auch dann nicht getan hätte, wenn er länger gelebt hätte.)

Alles in allem lohnt der Theoretiker Novalis eine Auseinandersetzung durchaus, auch wenn er es mit seiner Art, in Fragmenten zu philosophieren, seinem Publikum nicht einfach macht. Die meisten Missverständnisse aber sind spätestens seit den 1980ern ausgeräumt. Ausgaben aus jener Zeit oder später könnten bei einer Korrektur des Novalis-Bilds sehr hilfreich sein.


Um obiges zu verifizieren, habe die Hardenbergs theoretische Schriften in zwei verschiedenen Ausgaben gelesen.

Da ist einmal das Reclam-Heftchen, das dem Aperçu auch seinen Titel gegeben hat:

Novalis (Friedrich von Hardenberg): Fragmente und Studien. Die Christenheit oder Europa. Herausgegeben von Carl Paschek. Ditzingen: Reclam, 1984. [Gelesen im Nachdruck von 2021] (= RUB 8030)

Und die kleine Werkausgabe, die damals bei Hanser erschien:

Novalis: Werke in einem Band. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Kommentiert von Hans-Joachim Simm unter Mitwirkung von Agathe Jais. München, Wien: Hanser, 1981.

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