Wohl kaum ein anderes philosophisches System hat auf die Philosophie als Ganzes einen verheerenderen Einfluss gehabt als dasjenige Plotins. (Ich meine: Hegel hat zwar ähnlich verheerend gewirkt, aber sein Einfluss dauerte gerade einmal ein Vierteljahrtausend. Heute ist er einer unter vielen, die man studiert oder auch nicht. Abgesehen davon, dass Hegel auch nur ein Bastard ist von Plotin.) Natürlich kann man einen Autor nicht verantwortlich machen dafür, was Generationen später andere Denker aus seinen Werken ziehen. Aber beim Gedanken daran, was aus der christlichen Theologie und Philosophie hätte werden können, wenn nicht das Plotinische System so verlockend da gestanden hätte und schon von den Kirchenvätern für die eigenen religionsphilosophischen bzw. theologischen Zwecke ausgewaidet worden wäre, könnte ich weinen. Hätte Plotin doch nicht auf seinen Musterschüler Porphyrios gehört, der ihn überredete, seine Gedanken noch mehr als bisher zu notieren und so der Nachwelt zu erhalten!
Dabei muss man sogar schliessen, dass Plotin gegenüber dem Christentum, so er es kannte bzw. gekannt hätte (wir wissen es nicht), wohl eher kritisch eingestellt war bzw. gewesen wäre. Es gibt einen Text, der in der deutschen Übersetzung den Titel Gegen die Gnostiker trägt (im Original hatten die Texte keine Überschrift), N° 33 in der Zählung des Übersetzers Richard Harder (der die Texte chronologisch ordnete), II 9 in der traditionellen Einteilung nach Enneaden, die von Porphyrios her stammt. In diesem Text wendet sich Plotin gegen gewisse Vorstellungen der Gnostiker über die ‚jenseitige‘, der hiesigen physischen Welt übergeordnete Welt der Seele, des Geistes, des Einen (des Gottes), die nicht der seinen entsprechen. (Es ist, nebenbei bemerkt, offensichtlich ein uraltes Phänomen, dass sich zwei Systeme, die sich sehr nahe stehen, hasserfüllter bekämpfen als sie ihrerseits ein völlig konträres System bekämpfen: Die katholische Kirche hat Muslime und Juden bedeutend weniger konsequent zu vernichten gesucht wie die Albigenser oder Waldenser. Die stramm der sowjetischen Partei hörigen kommunistischen Truppen im Spanischen Bürgerkrieg bekämpften lieber trotzkistische Abweichler als Francos Armee.) Dennoch, wenn wir lesen, wie sich Plotin seine übergeordnete Welt vorstellt, können wir nicht umhin, festzustellen, dass Augustinus gar nicht so viel daran ändern musste:
Wenn sich uns also das Wesen des Guten [so fängt N° 33 an] als ein Einfaches und somit Erstes gezeigt hat (denn alles was nicht Erstes ist, ist nicht einfach), als etwas, das nichts anderes in sich hat, sondern ein Eines und Einheitliches ist; da ferner das sogenannte Eine sich als desselben Wesens herausgestellt hat (denn auch das Eine ist nicht zunächst sonst etwas und dann erst Eines, so wie das Gute nicht zunächst sonst etwas ist und dann erst gut), so muss immer, wenn wir ‚das Eine‘ und ‚das Gute‘ sagen, darunter eine und dieselbe Wesenheit verstanden werden; wir sagen mit diesen Bezeichnungen gar nichts über sie aus, sondern suchen sie nur vor uns selbst nach Möglichkeit begreiflich zu machen.
In N° 38 / VI 7, das den Titel trägt Wie kam die Vielheit der Ideen zustande? (allerdings zu diesem Thema wenig zu sagen hat), führt Plotin sein Eines noch differenzierter aus:
Da es nun alle Dinge hervorzubringen vermag, was für Größe soll man ihm zuschreiben? Nun, er [der Gott – P. H.] muß wohl unendlich sein. Ist er aber unendlich, so hat er keinerlei Größe; ist doch Größe ebenfalls ein Späteres; auch darf er, wenn er auch die Größe hervorbringen soll, sie selber nicht haben.
So haben wir in Plotins Kosmos das Eine, das – obwohl unbewegt und unbeweglich – den Geist hervorbringt, der seinerseits zwar offenbar der Materie inhärent ist, aber nichts tut. Das Eine bringt auch die Seele hervor, die ihrerseits dem Geist untergeordnet scheint; erst diese Seele ist es, die, indem sich aus sich selber eine Art ‚Unterseelen‘ kreiert, die Materie belebt. Wir sehen: eine Mischung aus sekundärem Pantheismus und Monismus.
Wie Plotin, der den Gnostikern gegenüber Wert darauf legt, dass seine Darstellung (im Gegensatz zu der ihren) bewiesen ist, aber zu dieser Darstellung kommt (und dazu, sie als bewiesen zu betrachten), entzieht sich dem heutigen Publikum, das sieht, wie viele nicht diskutierte Voraussetzungen Plotin machen muss, um von einer Stufe seines Kosmos zur nächsten zu kommen, und sich fragt, woher er denn in jener Welt so gut Bescheid weiß, die wir (= unsere Seelen) ja gar nicht erkennen können, da wir (= unsere Seelen) mit Materie behaftet sind. Oder wir fragen uns, wie und warum das Eine sich denn kompliziert gemacht hat, wenn es als Eines und Einziges doch seine Ruhe hätte haben können? Plotin verwendet dasselbe Vorgehen (und hat wohl zumindest dessen Grundlagen vordefiniert), wie wir es später zum selben Thema bei den Scholastikern erleben. Er erinnert so an ähnliche geistige Turnübungen, wie sie diese machten, um ihrerseits Gottes Wesen erklären zu können. Wenn Plotin und das von ihm (indirekt) verführte Mittelalter diese geistige Energie zum Beispiel auf konkrete naturwissenschaftliche Forschung verwandt hätten – wir hätten heute vielleicht Krebs und Alzheimer besiegt und das ganze Sonnensystem besiedelt … (Wobei wir Plotin nicht völlig Unrecht tun wollen. Es gibt in den ersten 38 Texten einen oder zwei zu optischen Phänomenen, die – wie Arno Schmidt es formulieren würde – „nicht unverächtlich“ sind und im Rahmen des naturwissenschaftlichen Wissens des 3. Jahrhunderts zumindest nicht abfallen.)
Plotin: Schriften in deutscher Übersetzung. Teilband 1 • Schriften 1-38. Übersetzt von Richard Harder. Neubearbeitung von Richard Harder, Rudolf Beutler und Willy Theiler. Hamburg: Meiner, 2020 (Gelesen in der Lizenzausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt). [Es handelt sich hier um einen Zusammenzug nur der deutschen Übersetzungen aus einer 1956ff erschienen zweisprachigen Ausgabe der Werke Plotins, erschienen ebenfalls in der Philosophischen Bibliothek bei Meiner. Diese wiederum war eine Bearbeitung einer bereits zwischen 1930 und 1937 erschienenen noch einsprachigen Ausgabe (ebenfalls in der Philosophischen Bibliothek bei Meiner), die Harder noch alleine verantwortet hatte. Er starb indes 1957 unter der Überarbeitung seiner Übersetzung für die Neuausgabe, weshalb Beutler und Theiler in die Bresche sprangen. Für die philologisch-philosophische Qualität der Arbeit der beiden Neuen kann ich nicht garantieren; aber sie haben auf jeden Fall auf ein paar grammatisch-syntaktische Mätzchen (vor allem bei der Zeichensetzung!) von Harder verzichtet, was ihre Übersetzung, ab N° 22, bedeutend lesbarer macht.]