Schon nach den ersten paar Seiten in der Lektüre dieses Buchs hätte man mich sehen können, wie ich mich in meinem Stuhl zufrieden und glücklich lächelnd zurücklehnte. Endlich wieder eine biografische Neuerscheinung von Qualität, nachdem die letzten drei Anläufe ja nicht so geglückt waren. Da waren Hanuschek, der sich in seiner Schmidt-Biografie damit amüsiert hat, weitläufig die Romane seines ‚Opfers‘ zusammen zu fassen und zu analysieren; Jeremy Adler, der eine ursprünglich viel kürzere englische Version seiner Biografie von Johann Wolfgang Goethe für die deutsche Ausgabe plan- und ziellos aufgebläht hat; und über Brauneders Karl May-Biografie breiten wir am besten den gnädigen Mantel des Schweigens.
Hier nun aber haben wir mit Stephan Oswald jemanden, der sein Thema genau kennt. Jemanden, der in der Lage ist, sein Thema strukturiert vorzustellen. Jemanden, der die deutsche Sprache sicher beherrscht und schreiben kann, ohne gleich wie Adler in hymnisch-schwelgerische Tiraden zu verfallen oder wie Brauneder schon Mühe hat, die ganz normale Satzstellung Subjekt-Verb-Objekt einzuhalten. Wir folgen August von Goethe in dieser Biografie ziemlich geradlinig von der Geburt bis zu seinem frühen Tod. Und – bei diesem Thema sehr wichtig – Oswald bemüht sich, den Sohn aus dem Schatten seines übermächtigen Vaters soweit zu lösen, dass er ihn als eigenständige Person vorstellen kann. Das gelingt bei diesem Thema natürlich nicht ganz. Schon im Titel rekurriert er auf den Vater. Das hängt auch mit August von Goethes Wesen zusammen: Dieser konnte sich selber nie vom Schatten seines Vaters befreien. Der kleine Junge in seinen Briefen an den Vater ebenso wie der bereits 40-Jährige in seinen Berichten von seiner Italienreise: Sein Leben lang buhlte, ja bettelte, der Sohn um Liebe und Anerkennung von seinem Vater. Der wiederum blieb sein Leben lang distanziert – einerseits wortwörtlich, weil er viele Monate im Jahr in Jena verbrachte, wo er ungestört von der Familie arbeiten wollte. Und ‚ungestört‘ hieß in diesem Fall, dass er nicht einmal Briefe empfangen wollte, geschweige denn allfällig doch erhaltene beantwortete. Johann Wolfgangs Briefe nach Hause waren vor allem Aufträge an Christiane, und nach ihrem Tod an August, ihm dieses oder jenes zu besorgen und nach Jena zu schicken, oder auch Besorgungen in Weimar in seinem Namen zu tätigen. August murrte nicht, sondern gab sich alle Mühe, des Vaters Aufträge neben seinen dienstlichen Obliegenheiten auch noch zu erfüllen. Lob gab es selten dafür.
(Ich vermute, dass August diese Disposition von seiner Mutter geerbt hat – ‚erben‘ hier nicht im Sinne einer biologischen Übergabe von DNA, sondern im Sinne der Truhe, die als Erbstück in der Familie weitergegeben wird. Denn auch Christiane erfüllte Johann Wolfgangs Aufträge klaglos und effizient, so lange sie noch lebte. Johann Wolfgang wieder, um kurz Oswald zu verlassen (eine gute Biografie zeichnet sich unter Umständen auch dadurch aus, dass man aus ihr heraus weiter denken, den Faden weiter spinnen kann), hat sich ziemlich sicher – anders als der von ihm verachtete Jean Paul – kaum Gedanken über die Erziehung seines Sohnes gemacht. Er, der, wenn ich mich recht erinnere, irgendwo mal gesagt hat, dass Kinder aufwachsen sollten wie die Kinder von Piraten, auf dem Schiff herum wuselnd langsam die Piraten-Tätigkeit erlernend, kopierte, mehr oder weniger bewusst, in seinem Umgang mit August den seines Vaters Johann Caspar mit ihm. Nur, dass er, Johann Wolfgang, – von ähnlichem Charakter wie dieser – Johann Caspar sehr wohl Paroli zu bieten vermochte und relativ rasch sein eigenes Ding durchzog. Auch starb Johann Caspar als Wolfgang gerade mal die 30 überschritten hatte. Sein Sohn August, anders gestrickt, konnte weder offen noch hinter des Vaters Rücken rebellieren – das macht die Tragik seines Lebens aus.)
À propos ‚Erbe‘: In der biografischen Forschung, so weit sie sich überhaupt mit August beschäftigt hat, wird Augusts übermäßiger Weinkonsum – heute würden wir sagen: er war alkoholkrank – praktisch immer als ‚Erbe der Mutter‘ aufgeführt. (Weil es ja nicht der große und verehrte Goethe sein kann, der …) Oswald hält fest, dass Christiane das Trinken überhaupt erst im Hause Goethe gelernt haben kann. Bevor sie Johann Wolfgang zu sich nahm, war sie schlicht zu arm, um sich Wein leisten zu können. Neben dem Umstand, dass man im 18. Jahrhundert auch Kinder ohne Bedenken Bier und Wein trinken ließ, ist aber für August auch festzuhalten, dass er im eigenen Vater ein durchaus nicht zu verachtendes Beispiel vor Augen hatte. Johann Wolfgang konsumierte pro Tag im Durchschnitt zwei Flaschen Wein und wäre nach heutigem medizinischen Gesichtspunkt ebenfalls als Alkoholiker einzustufen, auch wenn zu sagen ist, dass damals der Wein weniger Alkohol enthielt als heute.
In seinen letzten Lebensjahren kam dann bei August noch das Essen hinzu, so dass er ziemlich korpulent wurde. Aber was sollte der arme Kerl denn sonst machen? Liebesbezeugungen seines Vaters erhielt er trotz aller Bemühungen selten bis nie. Seine Ehe mit Ottilie von Pogwisch war gescheitert. Daran war nicht nur Johann Wolfgang schuld, der das junge Paar bei sich im Dachstock einquartierte. Die Konstellation stimmte von Anfang an nicht. Der Goethe’sche Haushalt war – der Baronisierung zum Trotz – bürgerlich aufgestellt. In Christiane hatte Johann Wolfgang jemand gefunden, die nicht nur seine sexuellen Bedürfnisse abdeckte, sondern auch den Haushalt führte. Will sagen: Sie leitete diesen nicht unbeträchtlichen Teil der Firma Goethe, und zwar tadellos. Ottilie aber war dazu erzogen worden, als Dame des Hauses zu repräsentieren. Ihr nach Christianes Tod die Führung des Haushaltes zu übertragen, hätte den Bock zum Gärtner gemacht, denn Geld war für sie vor allem zum Ausgeben da – und zwar für rein repräsentative Ausgaben, die oft sie selber betrafen. Die Stelle einer repräsentativen Dame des Hauses aber war in der Firma Goethe ganz einfach nicht vorgesehen und wurde auch nicht benötigt. Das Scheitern dieser Ehe kann keinem der beiden Betroffenen angelastet werden. (Eine ähnlich seltsame Verpaarung – die ebenfalls nicht funktionierte – leistete sich Johann Wolfgang dann, als er seinen Sohn ausgerechnet mit Eckermann nach Italien schickte …)
Last but not least: Oswald hält ganz klar fest, dass August von Goethe nicht der Versager war, als der er meist gehandelt wird. Natürlich erhielt er die erste Anstellung in der Weimarer Verwaltung durch die Beziehungen seines Vaters. Aber er war zunächst nur Charakterisierter Kammerassessor, das ist die unterste Stufe und dazu noch ohne Lohn. Ein unbezahltes Volontariat also. Doch er wurde rasch unter die Lohnempfänger aufgenommen und stieg ebenfalls sehr rasch zum Kammerherren auf. Das war in Weimar keineswegs ein zeremonieller Dienst, sondern beinhaltete tatsächliche und harte Verwaltungsarbeit. August von Goethe zeichnete sich im Dienst also aus, nämlich durch ein großes Organisationstalent, das ihm ermöglichte, wo immer Unordnung und Schlendrian in der Weimarer Verwaltung eingekehrt waren (und das waren sie des öfteren!), sehr rasch Ordnung zu schaffen. Auch auf dem Gebiet der Geologie (Gesteinskunde) kannte er sich mindestens so gut aus wie sein Vater. (Oswald zitiert ein oder zwei Briefe geologischer Natur, die August an Johann Wolfgang schickt, und in denen der ansonsten sehr devote und um Liebe bettelnde Ton dem Vater gegenüber fast gänzlich fehlt. August wusste sehr wohl um seine Qualitäten.) Wäre er nicht der Sohn seines Vaters gewesen, auf dem alle Augen Weimars ruhten, hätte er wohl ein ruhiges und zufriedenes Leben als höherer Verwaltungsbeamter führen können. Oder er hätte mit seinen Kenntnissen in der Holz- und Gesteinskunde die Funktion eines Bauingenieurs avant la lettre übernehmen können. Er war nicht dumm (oder stumpf, wie ihn die Zeitgenossen gerne charakterisierten). Er war der falsche Mann am falschen Ort.
Im Anhang liefert Oswald noch drei erst vor kurzem aufgefundene literarische Texte August von Goethes. Sein Vater hat ja nach seinem Tod so ziemlich alles Kompromittierende vernichtet. Die hier sind ihm entgangen. Nun haben wir in diesen drei Fragmenten sicher keinen großen Schriftsteller vor uns. Im einen, offenbar einem Drama, gibt es die Konstellation zweier Zwillingsbrüder, von denen der eine Regent seines Landes ist, der andere ins Exil ging. Wir können nur vermuten, dass es August hier indirekt um eine Darstellung seiner eigenen Situation als der später Geborene ging. Das andere Fragment, offenbar als Roman gedacht, hat eine nicht uninteressante Ausgangssituation. Offenbar kehrt da jemand aus Amerika zurück in seine deutsche Heimat und vergleicht nun die beiden Länder miteinander. Für die Situation in Amerika greift August, zum Teil mit wörtlichen Anlehnungen und Übernahmen, auf James Fenimore Coopers Die Ansiedler oder die Quellen des Susquehanna zurück, das 1824 ins Deutsche übersetzt worden war und in Weimar sehr bekannt wurde. Das Kind Eugen dann ist eine merkwürdige Träumerei, ausgelöst durch den Aufenthalt Augusts in Venedig.
Die Biografie, die Oswald hier liefert, aber ist kenntnisreich und gut geschrieben, also absolut empfehlenswert.
Stephan Oswald: Im Schatten des Vaters – August von Goethe. Eine Biographie. München: C. H. Beck, 2023.
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