Alain Claude Sulzer: Doppelleben

Zeichnung der Köpfe von Edmond und Jules de Goncourt auf grünem bzw. violettem Hintergrund. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Doppelleben hat nicht nur doppelte Doppelkonsonanten, es hat auch einen Doppelsinn. Da ist einmal die Bedeutung, die wir ihm im Allgemeinen zulegen, wenn wir von einer Person sagen, sie führe ein Doppelleben. Gegen außen, die Nachbarn und die Chefin, bieder und brav, frequentiert diese Person nachts übelste Kaschemmen oder verzockt ihr Geld online im Kartenspiel. Das kommt wahrscheinlich häufiger vor, als man denkt und auch ganz ohne das romantische Gedöns, das Robert Louis Stevenson um Dr. Jekyll und Mr. Hyde gewoben hat. So einen Fall von Doppelleben haben wir in der Gestalt der Rose Malingre vor uns. Sie arbeitete jahrelang als Haushälterin bei den Brüdern Goncourt. Zuvor hatte sie bei deren Mutter gearbeitet; die Brüder haben sie sozusagen bei deren Tod „geerbt“. Sie war sauber, arbeitsam, fleißig, pünktlich und diskret, immer da, wenn man sie brauchte, aber ansonsten unsichtbar. (Nur kochen konnte sie – zumindest in der Darstellung von Alain Claude Sulzer – nicht.) Daneben aber führte Rose Malingre ein zweites Leben. Nachts, wenn die Brüder sie nicht mehr brauchten, war sie in den Gassen unterwegs. Ursprünglicher Anlass war ihre Liebe zu einem viel jüngeren Mann. Sie gab ihre ganzen Ersparnisse hin, damit der einen Laden eröffnen konnte, doch der junge Mann beutete sie erbarmungslos aus. Nur, wenn sie Geld brachte, erwies er ihr einige Beachtung, daneben aber hatte er auch noch andere, jüngere und besser aussehende Geliebte. Schon bald musste Rose Schulden machen und, als ihr im Quartier niemand mehr etwas borgen wollte, ihre Ausgaben für den Haushalt aufrunden, schließlich gar das Kästchen mit Bargeld, das die Brüder im Schreibtisch aufbewahrten, heimlich öffnen und sich dort bedienen. Sie begann zu trinken und lebte ihre unerfüllte Liebe in raschem Sex mit Fremden auf der Straße aus. All dies erfuhren ihre Dienstherren, die Brüder Goncourt, erst nach ihrem Tod.

Diese Brüder wiederum stellen das andere Beispiel von ‚Doppelleben‘ dar. Meist führt man sie im Deutschen ein, indem man auf den Prix Goncourt verweist, den renommiertesten Literaturpreis französischer Sprache, den die beiden gestiftet haben. Dann wird man auf ihr schon symbiontisch zu nennendes Leben hinweisen. Edmond (*1822) und der acht Jahre jüngere Jules lebten nach dem Tod ihrer Mutter 1848 bis zu Jules’ Tod 1870 in einem gemeinsamen Haushalt in Paris von ihrem nicht kleinen Erbe. Alles unternahmen sie gemeinsam. Gemeinsam gingen sie spazieren, gemeinsam besuchten sie Gesellschaften, gemeinsam schrieben sie Romane. Ihre Schlafzimmer hatten sie getrennt, aber es ging das Gerücht, dass sie sich sogar ihre Geliebten teilten, und zumindest von einer scheint es wahr gewesen zu sein. Ihre Werke gelten heute als Vorreiter des Naturalismus, auch wenn sie schon bald von Männern wie Maupassant oder Zola überflügelt wurden und zu ihrem großen Kummer literarisch schon zu Lebzeiten nur die zweite Geige spielten.

In seinem Roman Doppelleben folgt Sulzer der Biografie der beiden Brüder und ihrer Haushälterin. Er stützt sich dabei, ohne gerade abzuschreiben, auf die veröffentlichten literarischen Tagebücher der beiden (die man auch hier im Blog vorgestellt findet). Wer die Tagebücher kennt oder sich sonst schon mit der Biografie der beiden Brüder auseinander gesetzt hat, wird vom Gerüst des Romans, der Story, nichts Neues erwarten dürfen. Es sind die von Sulzer gewählten Schwerpunkte, die interessant sind.

Diese sind, zunächst einmal (und Reich-Ranickis Diktum folgend), die Liebe und der Tod. Die unerfüllte Liebe von Rose und die sich gegenseitig erfüllende Bruderliebe der beiden Goncourts, die aber jede andere Form von Liebe ausschließt. Der Tod von Rose, die – so lässt Sulzer durchblicken – an ihrer unerfüllten Liebe stirbt, und der Tod von Jules an der Syphilis. Diese Krankheit konnte damals noch nicht behandelt werden, und so erleben wir, wie Jules langsam in die fürs vierte Stadium der Lues typische Demenz abgleitet. Edmond erlebt das als eine Art Rückzug des Bruders aus dem bisherigen symbiontischen Zusammenleben. So gibt es auch in seiner Liebe ein Leiden, ein anderes Leiden freilich als das von Rose. Und auch Jules wird sterben. (Als eine Art Satyrspiel erzählt Sulzer noch, wie Edmond in der Hungersnot, die die Commune in Paris erzeugte, gezwungen war sein Lieblingshühnchen selber zu schlachten, weil es nichts Essbares mehr gab. Auch dies eine wahre Geschichte.)

Auf einer zweiten Ebene zeigt Sulzer die Differenz zwischen Künstler und Kunsthandwerker. Die Goncourts, berühmt für ihre genaue Beobachtungsgabe und auch selber sehr stolz darauf, sehen über all die Jahre von deren Doppelleben nicht, dass sich Rose mehr und mehr verändert. Was Prousts Ich-Erzähler im letzten Buch der Suche nach der verlorenen Zeit so an ihnen bewundert, erweist sich ja schon bei ihm und nun auch bei Sulzer als eine Fähigkeit, die auf Äußerlichkeiten beschränkt ist. Sie erreicht das Tischtuch und das Geschirr eines Menschen, den eigentlichen Menschen erreicht sie nicht. Und selbst vor diesen Äußerlichkeiten verschließt, nach Sulzer, Edmond die Augen, wenn er Jules’ Erkrankung nicht als Syphilis wahr haben will, sondern der Erschöpfung des Bruder durch zu vieles Arbeiten zuschreibt – obwohl die beiden Brüdern bei anderen die Symptome sehr wohl erkannten und zuordnen konnten. Sulzer sagt dazu in einer Art Nachwort:

Kleinbürgerliche Prüderie war es gewiss nicht, die ihn [Edmond] glauben und behaupten ließ, sein Bruder sei an Überanstrengung im Dienst der Kunst gestorben. Es war wohl eher ein letzter Beweis von Bruderliebe, wenn er eisern daran festhielt, dass Jules nur für eines gelebt hatte und gestorben war: für die Literatur, für das richtige Wort, für die Wahrheit auf dem Papier. [S. 290]

Die Wahrheit aber war, so müssen wir aus Sulzers Roman schließen, dass die Goncourts halt doch keine Künstler sondern nur Kunsthandwerker vorstellten – auch weil und wenn der überlebende Edmond das Haus in Auteil mit japanischem Kunsthandwerk überfüllen wird.


Wenn Sulzer aber den Roman beendet mit dem Satz

Dass Edmond am 16. Juni 1896, sechsundzwanzig Jahre nach seinem Bruder, nicht in seinem Haus starb, sondern während eines Aufenthaltes auf dem Land bei seinem Freund Alphonse Daudet, war ein unglücklicher Zufall. [S. 288]

so muss ich ihm zwar Recht geben, insofern es natürlich immer Zufall ist, wann und wo jemand stirbt, aber dass es Edmond trotz der raffinierten Ausstaffierung seines Hauses immer wieder von dort weg trieb, war dann wohl doch kein Zufall, sondern dem Ungenügen Edmonds an seiner Existenz zuzuschreiben.


Alain Claude Sulzer: Doppelleben. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2022. [Gelesen in der Lizenzausgabe 2023 für die Büchergilde Gutenberg]

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