Dramen waren Sache der romantischen Bewegung nicht. Außer natürlich, man rechne – wie es wirklich im französischen und im englischen Sprachraum üblich ist – die deutschen Phänomene des Sturm und Drang und der Weimarer Klassik ebenfalls zur Romantik. Selbst diese aber haben ihren Ruf im Drama gerade einmal zwei Ausnahme-Könnern zu verdanken: Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller. (Kleist war zwar ihr Zeitgenosse, aber seine Werke stehen außerhalb jeder Bewegung und wurden auch erst im 20. Jahrhundert rezipiert.)
So darf es denn nicht verwundern, dass sich das vielleicht berühmteste Drama der französischen Romantik, das hier vorliegende Lorenzaccio von Alfred de Musset, in vielem an den Sturm und Drang, an Goethe und Schiller, anlehnt. Rasche Ortswechsel von Szene zu Szene (Szenen, die dazu noch aus nur wenigen Fetzen Dialog bestehen konnten) und der Einsatz von großen Volksmassen hinderten bei der damaligen Praxis und den damaligen Mitteln der Bühne jede Aufführung zu Mussets Lebzeiten. Der Autor wusste das selber; Lorenzaccio erschien 1834 in Band 1 seiner Sammlung eigener Stücke Un spectacle dans un fauteuil. Ein Drama fürs Sofa also, ein Lesedrama.
Nicht nur formal, auch inhaltlich greift Musset auf den Sturm und Drang zurück. Schon seine Dramaturgie erinnert sehr an den Götz von Berlichingen Goethes, und die grundlegende Handlung ist ebenfall der des Götz ähnlich: Götz wie Lorenzaccio lehnen sich gegen einen ihrer Meinung nach ungerechten Herrscher auf und beide scheitern mit ihrem Aufstand. Allerdings mischt Musset auch noch ein bisschen Schiller hinein, indem er zwei miteinander verwandte Antagonisten wählt, Lorenzaccio und Alexandre – wenn es auch nicht gleich Brüder sind wie in den Räubern des Deutschen. Im Übrigen orientiert sich die Handlung eng an den historischen Fakten, der tatsächlichen Ermordung des Florentiner Herrschers Alessandro de’ Medici durch seinen Vetter Lorenzo di Pierfrancesco de’ Medici im Jahr 1537. (Nur dass Lorenzino, wie er auch genannt wurde, unmittelbar nach seinem Mord selber totgeschlagen wurde, ist eine Erfindung Mussets. In Wirklichkeit lebte er noch 11 Jahre im Exil, ehe er – wohl im Auftrag von Cosimo I., dem Nachfolger Alessandros – dann doch ermordet wurde.)
Wenn ich jetzt noch hinzufüge, dass Musset in seinen Charakter des Lorenzaccio auch noch viel von dem Hamlets gepackt hat, wird es vielleicht nicht mehr verwundern, wenn ich sage, dass dieses Amalgam nicht richtig funktioniert. Es wird – vor allem in den Akten III und IV – zu viel geschwatzt. Der Held schwankt zwischen Zaudern und Entschlossenheit. Er wird so den Zuschauenden bzw. Lesenden nicht so recht sympathisch – anders als Götz, anders als Karl Moor, anders auch als Hamlet. Er ist aber auch kein ‚Unsympath‘; er erinnert ein wenig an jene kleinen Raubtiere wie zum Beispiel die Wiesel, die durchaus brutal sein können, aber nach Möglichkeit eine Auseinandersetzung mit Stärkeren ängstlich vermeiden und als solche niedlich und dabstoßend gleichzeitig wirken können.
Das mag in einem Lesedrama angehen, wo wir ähnlich oder gleich rezipieren wie in einem Roman. Will sagen: Wo wir über den Inhalt des Gelesenen reflektieren, nachdenken. Auf der Bühne wird ein solcher Charakter problematisch. Es ist deshalb vielleicht nur konsequent, dass wir denn auch in der ersten Aufführung von 1896 in der Rolle des Lorenzaccio – die Sarah Bernhardt finden. Es blieb dann auch lange Tradition, dass Mussets ‚Held‘ als Hosenrolle von Frauen gespielt wurde. (Was, nebenbei, auch Licht aufs Frauenbild jener Zeit wirft.)
Historisch war es so, dass Lorenzaccios Mord von der republikanischen Partei als „Tyrannenmord“ gefeiert wurde, die Republikaner allerdings keinen Gewinn daraus zu ziehen vermochten. Die Geschichte Florenz’ zu jener Zeit ist voller ständig wechselnder Herrscher, Einmischungen des französischen Königs ebenso wie des Papstes und Intrigen der verschiedenen aristokratischen Familien, die alle um die Herrschaft in Florenz kämpften. Deshalb besteht die republikanische Partei bei Musset denn auch aus den verschiedenen, von den Medici aus der Herrschaft gedrängten Familien, wie es auch in der Geschichte so war. Sie kann sich folgerichtig nicht auf einen Führer einigen und muss kampflos zusehen, wie die Medici weiterhin in der Stadt regieren werden.
Hier nun greift noch eine zweite Lesart, und Musset erlaubt sich immer wieder kleine Anachronismen, um auf diese zweite Lesart hinzuweisen. Es ist die Enttäuschung der französischen Republikaner, die ebenfalls einen möglichen Sieg aus der Hand gaben, indem sie zuließen, dass nach der Julirevolution von 1830 zwar das Herrscherhaus der Bourbonen die Herrschaft über Frankreich definitiv verloren hatte – allerdings nur, um dem schon lange rivalisierenden Haus Orléans Platz zu machen. Diese Frustration, die die französischen Intellektuellen nach 1830 plagte, findet durch viele Anspielungen ihren Ausdruck in diesem Stück. Heute, rund 200 Jahre später, erleichtern diese Anspielungen die Rezeption allerdings nicht unbedingt …
Noch ein Wort zu Mussets Quellen: Die erste Anregung war ein kurzes, von ihr verfasstes Dramenfragment, das er ca. 1834 von seiner damaligen Geliebten George Sand erhielt. Sie hat es ihm in der Folge zur Verfügung gestellt, zur freien Bearbeitung übergeben. Musset führte seine Arbeit ohne sie aus; ein Vergleich der beiden Fassungen, so weit sie in meiner Ausgabe zu finden ist, zeigt durchaus signifikante Unterschiede. Sand als Co-Autorin anzugeben, wie es die deutsche Wikipedia tut, scheint mir deshalb doch etwas übertrieben.
Wegen des gerade Gesagten also noch meine Ausgabe:
Alfred de Musset: Lorenzaccio. Chronologie, présentation, notes, dossier, bibliographie de Florence Naugrette. Paris: Flammarion, 2019. (= GF 1500)