Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen [Le Livre de la Cité des Dames]

Links die Mauer einer Stadt oder einer Burg. In der Mitte zwei Frauen, die damit beschäftigt sind, die Mauern weiter hochzuziehen, mit Maurerkelle und Backsteinen. Die Frau links trägt den mittelalterlichen weißen Kopfputz (einer Witwe? - diese Frau soll die Autorin selber darstellen) die andere eine Krone. Es wurde als Cover eine Miniatur einer alten Ausgabe des Buchs verwendet; man kann das Alter des Bildes schon am Malstil erkennen. Hier wurde nur Ausschnitt aus dem Buchcover verwendet.

Christines Vater, Tommaso da Pizzano, muss ein für damalige Verhältnisse sehr liberaler Mann gewesen sein. Er förderte die Neugier seiner einzigen Tochter und ihren Wissenstrieb, ließ sie seine Bibliothek benutzen und unterrichtete sie wohl auch zusammen mit ihren Brüdern. Ihre Mutter war da bedeutend konservativer, wie sich aus einer Bemerkung schließen lässt, die im Buch von der Stadt der Frauen einmal fällt. Als der Vater, ein berühmter Arzt, an den französischen Hof gerufen wurde und dabei die Familie zunächst einmal zurück ließ, muss die Mutter versucht haben, ihrer Tochter vermehrt das Basiswissen des mittelalterlichen Frauenlebens beizubringen. Tatsächlich hielt der Vater seinen Ruf an den französischen Hof zunächst für temporär; erst als er dann schon rund drei Jahre dort verbracht hatte, ließ er die Familie nachkommen. Christine konnte nun offenbar weiter ‚studieren‘ und hatte zeitweilig sogar die königliche Bibliothek zur Verfügung. (Die Wichtigkeit mittelalterlicher Bibliotheken also Ort nicht nur der – an sich sterilen – Aufbewahrung von Wissen sondern auch eines produktiven Lernens und eines Weitergebens und -verarbeitens kann man nicht hoch genug einschätzen.) Dennoch war es – rein ökonomisch betrachtet – vielleicht nicht die klügste Idee gewesen, sich so ganz auf den französischen König Karl V. zu verlassen. Als dieser nämlich 1380 verstarb, hatte sein Nachfolger Karl VI. (bzw. hatten dessen Vormünder) nichts Eiligeres zu tun, als sämtliche Günstlinge Karls V. (darunter auch den Arzt) vom Hof und von sämtlichen Pfründen zu entfernen. Die Familie geriet in finanzielle Schwierigkeiten, die sich noch verstärkten, als nunmehr Tommaso da Pizzano selber ebenfalls starb, im Jahr 1387. Nur drei Jahre später starb Christines Mann, ein ansonsten kaum nennenswerter französischer Kleinadliger. (Sie scheinen sich allerdings geliebt oder zumindest gegenseitig sehr geachtet zu haben. In ihrer Lyrik beklagt Christine immer wieder den Verlust des Gatten.) Ihre zwei Brüder kehrten nach Venedig zurück, aber es blieben immer noch ihre eigenen drei Kinder und ihre alte Mutter zu versorgen.

Nach einer Phase der Depression besann sich Christine auf ihre eigentlichen Qualitäten und Fähigkeiten. Eine Wiederverheiratung wäre der völlig verarmten Frau wohl kaum möglich gewesen und lag auch nicht in ihrem Sinn. Statt dessen begann sie zu schreiben. Sie schrieb nicht nur ihre Texte und überließ den Rest professionellen Schönschreibern; sie schrieb ihre (und wohl auch andere) Bücher ins Reine und ließ sie im Geschmack der Zeit reich illustrieren. (Ihre beste – und teuerste!, wie sie hinzufügt – Illustratorin hat Christine sogar in diesem Buch hier verewigt.) Sie widmete ihre Bücher Vertretern des Hochadels, die – so war es damals Brauch – nun verpflichtet waren, ihr dafür eine gewisse Summe zu bezahlen, wofür sie dann das Buch behalten durften. Mit der Zeit wuchs die Zahl ihrer Mäzen:innen. So können wir heute sagen, dass Christine de Pizan die erste Frau war, die vom Ertrag ihrer Feder (eine Floskel, die damals noch wörtlich galt) leben konnte – die erste Autorin, Verlegerin und Buchhändlerin. Als solche kannte sie auch noch Christoph Martin Wieland, der sie 1781 im Artikel Verzeichniß und Nachrichten von französischen Schriftstellerinnen seines Teutschen Merkur aufführte. (Diesen Hinweis verdanke ich der Auswahlbibliographie, die am Ende meiner Ausgabe angefügt ist.)

Wir stehen mit Christine de Pizan noch vor der Epoche des Buchdrucks. Alle ihre Bücher waren also Unikate. Zum Beispiel existierten vom Buch von der Stadt der Frauen zunächst einmal gerade drei Exemplare. Zwei reich illustrierte (einen Ausschnitt aus einer – allerdings späteren – Illustration habe ich als Titelbild dieses Aperçu verwendet) und so etwas wie deren Vorlage – ebenfalls eine Reinschrift, aber ohne Illustrationen. Das mag erklären, warum dieses Buch lange Zeit in der literarischen Versenkung verschwunden war. Erst 1970 erschienen unabhängig voneinander eine Übersetzung ins Französische und ins Englische. Damit rückte das Buch in die Aufmerksamkeit der Moderne, und vor allem die feministische Bewegung sorgte dafür, dass es zur Weltliteratur aufstieg – als einziges, wie die Herausgeberin meiner Ausgabe, Margarete Zimmermann, meint, das nicht zuerst in seiner Originalversion berühmt wurde sondern nur in Übersetzungen.

Worum geht es nun in diesem Buch?

Es fängt an damit, dass Christine sehr selbstbewusst sich hinstellt und in der Ich-Form erzählt, wie sie eines Tages an ihrem Schreibtisch saß, umgeben von vielen Büchern aus verschiedenen Sachgebieten. Sie ist es gerade ein bisschen leid, die gewichtigen Lehrsätze verschiedener Autoren, mit denen ich mich seit längerem auseinandersetzte, zu durchdenken. Das zeigt uns Lesenden (neben der Neigung der Übersetzerin – ebenfalls Margarete Zimmermann – zu nachklappenden Verbkonstruktionen) eine selbstbewusste Intellektuelle, eine Denkerin, die es durchaus gewohnt ist, sich mit komplizierten Sachverhalten und Denkern zu beschäftigen. (Man wird in der Folge dieses Buchs denn auch finden, dass sie zum Beispiel die Civitas Dei des Augustinus durchgearbeitet haben muss, von Dante, Boccaccio und Petrarca das Wichtigste gelesen hat und nicht nur die Bibel – die sowieso! – sondern auch die Klassiker Vergil und Ovid aus dem ff kennt.) Jetzt aber will sie zur Entspannung etwas Leichteres lesen und greift – weil es ihr empfohlen worden ist – zum Buch der Klagen des Mattheus. Der Autor ist nicht etwa der Apostel sondern ein zeitgenössischer Mönch. Wie enttäuscht ist aber Christine, als sie feststellen muss, dass diese Klagen allesamt Verunglimpfungen und Beschimpfungen der Frauen sind. Weder körperlich noch geistig noch moralisch sollen diese etwas wert sein. Christine fällt in einen depressiven Zustand und klagt darin sogar Gott an, dass er etwas so Übles wie die Frau überhaupt erschaffen habe.

Wie sie so in einem dunklen Zimmer sitzt und klagt, sieht sie plötzlich am Boden einen hellen Lichtschimmer. Der kann nicht von draußen kommen, denn das Zimmer hat keine Fenster. Sie hebt die Augen und sieht – drei schöne Frauen in einem hellen Licht in ihrem Zimmer schwebend. Sie erfährt, dass es sich bei ihnen um die Frau Vernunft, die Frau Rechtschaffenheit und die Frau Gerechtigkeit handelt – drei allegorische Gestalten, die sich als enge Mitarbeiterinnen der Himmelskönigin, der Jungfrau Maria, zu erkennen geben. (‚Frau‘ muss hier im mittelalterlichen Sinn gelesen werden, als Anrede bzw. Titel, der nur einer adligen Dame zustand.) Die drei wollen Christine helfen, die Frauen gegen diese misogynen Vorwürfe des Matheus und anderer zu verteidigen. (Man sieht übrigens hier sehr schön, die die Metapher des Lichts für die Aufklärung (‚les lumières‘ auf Französisch, ‚enlightment‘ auf Englisch) schon bei Christine de Pizan verwendet wird, einer Autorin, die eigentlich noch dem Spätmittelalter zugerechnet werden muss, allenfalls dem Frühhumanismus.)

Die ganze Verteidigung nimmt die allegorische Form einer Stadt an, die die vier Frauen zusammen aufbauen. Zu Beginn ist sogar noch sehr konkret von Schaufeln die Rede, von Gefäßen um die Erde wegzutragen, die für den Aushub der Fundamente im Weg war, von Mauersteinen, Kellen und Mörtel, um zuerst die Stadtmauer, dann die Häuser zu errichten. Aber schon das Rühren des Mörtels wird gleichgesetzt mit dem Rühren der Tinte und die Kelle mit der Schreibfeder. Die Mauersteine schließlich sind die Exempla, die Geschichten, die die drei weisen Frauen zu erzählen wissen. Christine schöpft diese Geschichten aus der Bibel und Heiligenlegenden ebenso wie aus der antiken Mythologie und aus weiteren Quellen – diese Frau war in der Tat sehr belesen. Aus heutiger Sicht bedauerlich ist vielleicht, dass sie, wo sie zum Beispiel eine Novelle des Decamerone nacherzählt, nicht über die erzählerische Begabung eines Boccaccio verfügt – aber ihr Ziel ist auch ein anderes als das des Novellisten Boccaccio. Wir finden insgesamt weit über 100 Frauen, die als Beispiel für die hohen Tugenden und intellektuellen Fähigkeiten der Frauen beigebracht werden – von Xanthippe und diversen Amazonen über biblische Gestalten bis hin zu Zeitgenossinnen Christines. Den Schluss, die Bevölkerung der Stadt, machen verschiedene Märtyrerinnen und an ihrer Spitze, als Königin, die Jungfrau Maria. (Es fällt übrigens auf, wie in diesem Buch sogar der Himmel weiblich ist. Gott-Vater, der Sohn und der Heilige Geist werden kaum, wenn überhaupt, erwähnt.) Allen diesen Exempla ist es gemeinsam, dass die drei himmlischen Frauen sie in der Exegese oft gegen den Strich der üblichen, männlichen Interpretation bürsten – was unterm Lesen des öfteren zu Entzücken auf meiner Seite geführt hat.

Haben wir in diesem Buch eine feministische Utopie vor uns? Im eigentlichen Sinn des Wortes nicht – zum einen weil Utopia von Thomas Morus später entstanden ist, zum andern weil Christine de Pizan keinerlei Anstalt trifft, eine auch nur im weitesten Sinn politische Gemeinschaft dieser Frauen in dieser Stadt zu definieren. Sie kreiert eine Art weiblichen Freiraum, eine Argumentationshilfe gegen misogyne Ausfälle der Männer. Utopisch ist allenfalls – und dann nur im übertragenen Sinn – die von der Autorin vorausgesetzte bzw. erhoffte Gleichberechtigung der Frauen.

Man hat der Autorin andererseits auch ihr konservatives Frauenbild vorgeworfen. Ja, ihre idealen Frauengestalten sind fromm, edel und züchtig. Schließlich war es ja auch genau der Umstand, dass ihnen die zeitgenössische misogyne Literatur das Gegenteil vorwarf, der ihr Buch veranlasst hat. Indem sie die konservativen Werte für ihre Frauen reklamierte, rehabilitierte sie sie zugleich. (Abgesehen davon ergibt ‚konservativ‘ als Begriff des 19. Jahrhunderts auf das 15. angewendet gar keinen Sinn.)

Last but not least noch eine Bemerkung zu einer Anmerkung der Herausgeberin / Übersetzerin, die ich nicht verstehe. Ganz zu Beginn von Kapitel XVI steht in meiner Ausgabe:

Am Ende von Europa, in der Nähe des großen Ozeans, der die ganze Welt umgibt, liegt ein Land namens Skythien.

S. 51

Dazu finden wir auf S. 304 folgende Erklärung:

Die Ortsangabe […] ist nur verständlich, wenn man berücksichtigt, dass Christine noch vom aristotelischen Weltbild – die Erde als Scheibe, umgeben von den Meeren – ausgeht.

Abgesehen vom bei Margarete Zimmermann regelmäßig aufscheinenden und, ehrlich gesagt, eher störenden Nachklappen des Verbs: Aristoteles war durchaus ein Vertreter der Theorie, dass die Erde von mehreren, sich teilweise bewegenden Sphären umgeben war und somit der Meinung, die Erde sei eine Kugel. Was übrigens auch – in der ptolemäischen Fassung der Theorie – die Ansicht des Mittelalters war. Dass die äußerst gelehrte Christine de Pizan hier einer Scheibentheorie der Erde anhängen sollte, will mir nicht einleuchten. Ich vermute eher, dass mit „die ganze Welt umgeben“ die (auch bei einer Kugelgestalt der Welt) angenommene Tatsache gemeint ist, dass Asien im Verhältnis zu Europa viel kleiner ist, als wir es heute sehen, und dass ein und derselbe Ozean den Doppelkontinent Europa-Asien, bzw. im Grunde genommen schon im Altertum Europa-Asien-Afrika, einfasst.

Aber das ist nur ein kleiner Wermutstropfen in dieser schön gemachten Ausgabe.


Die da ist:

Christine de Pizan: Das Buch von der Stadt der Frauen. Herausgegeben und übersetzt von Margarete Zimmermann. Überarbeitete, erweiterte und aktualisierte Neuausgabe. Berlin: AvivA Verlag, 2023. [Leider eine sehr fragile Klebebindung …]

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