Leconte de Lisle: Poèmes barbares

In einem weißen Rahmen, weiß auf goldenem Hintergrund, eine Skizze eines Männergesichts mit Monokel. (Es handelt sich um eine Zeichnung des Leconte de Lisle von Paul Verlaine.)- Ausschnitt aus dem Buchcover.

Barbarische Gedichte – damit ist nicht Lyrik gemeint, die schlecht gefügt ist, brutale bzw. unanständige Themen präsentiert oder was wir auch immer an Negativem mit dem Wort ‚barbarisch‘ verbinden. Im Gegenteil: Auch wenn Leconte de Lisle manchmal (selten!) den Reim etwas erzwingt (zum Beispiel ein kurzes ‚o‘ auf ein langes reimt), so sind hier doch auf rund 300 Seiten handwerklich kunstvoll gestaltete Gedichte verschiedenster metrischer Maße und Formen versammelt, und angesichts des Ersterscheinungsjahrs von 1862 dürfen wir auch nichts Brutales oder Unanständiges erwarten.

Nein, um den Titel dieser Gedichtsammlung zu verstehen, müssen wir wissen, dass es sich um den mittleren Band einer dreibändigen Reihe handelt, die über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren entstanden ist: Poèmes antiques von 1852, dieses Buch hier und schließlich Poèmes tragiques von 1884. Nun sehen wir den vom Autor intendierten Gegensatz von ‚antik‘ und ‚barbarisch‘ – die ‚antiken‘ Gedichte bezogen ihre Thematik aus der griechischen und römischen Antike , während die ‚barbarischen‘ ihren Stoff in jenen Weltgegenden finden, die von eben diesen Griechen und Römern so bezeichnet wurden.

Vage chronologisch sortiert finden wir aus der ganzen Welt (Ägypten, Polynesien, Schottland, Persien, Indien, Spanien, dem Römischen Reich, Irland, Finnland und auch aus Leconte de Lilse Heimat, der Île Bourbon (heute La Réunion)) , aus sagenhaften Urzeiten bis ungefähr in die Renaissance, aus verschiedensten Schriften (u.a. der Bibel, der (jüngeren?) Edda, den Erzählungen Homers und Hesiods(!)) zusammengestellt Nachdichtungen alter Legenden und Weltentstehungssagen oder wir finden Darstellungen mehr oder minder heldenhafter Taten von mythischen oder eventuell auch ‚echten‘ Gestalten. So schwanken die Gedichte formal denn auch; zwischen Kurzepos und dem, was wir im Deutschen (aber nicht im Französischen!) eine Ballade nennen, finden wir alles. Und immer wieder sehen wir den Atheismus Leconte de Lisles durchbrechen, wenn er in verschiedenen Gedichten die blutige und brutale ‚Bekehrung‘ von ‚Heiden‘ durch technologisch überlegene europäische Heere schildert und implizit kritisiert.

Jetzt müssen wir nur noch wissen, dass Leconte de Lisle seinerzeit ein führendes Mitglieder der so genannten ‚Parnassiens‘ war – einer Gruppe, die so genannt wurde, weil sie ihren Anfang in einer Lyrik-Anthologie nahm, die Le Parnasse contemporain hieß und ebenfalls in drei Bänden 1866, 1871 und 1876 erschien (wobei Leconte de Lisle bei der Ausgabe von 1871 als verantwortlicher Herausgeber zeichnete). Die teilnehmenden Lyriker wollten sich darin von der zeitgenössischen Romantik abgrenzen, deren Gedichte meist subjektiv und sentimental waren. Vor allem der erste Band von 1866 ist in der Geschichte der französischen Literatur legendär geworden: Er enthält unter anderem die Nouvelles Fleurs du Mal von Baudelaire, die ersten veröffentlichten Gedichte von Verlaine und Mallarmé und er hat nachgewiesenermaßen Rimbaud zur Dichtung geführt.

In den Poèmes barbares grenzt sich Leconte de Lisle seinerseits im Speziellen ab von seinem früheren Förderer Victor Hugo, der gerade eine thematisch ähnliche Gedicht-Sammlung veröffentlicht hatte, wo er die Themen aber eben mit sehr viel Gefühl und Sentiment behandelte. Zwar entgeht auch Leconte de Lisle dem nicht ganz, aber im Großen und Ganzen haben wir doch einen sehr guten Versuch vor uns, Geschichte und Geschichten in Gedichten zu behandeln, ohne gefühlsselig zu werden.

Auf Deutsch scheint die Sammlung nicht zu existieren, auch wenn der darin enthaltene Rêve du Jaguar (Traum des Jaguars) Rainer Maria Rilke zu seinem Gedicht Panther inspiriert haben soll. Aber ich fürchte, für die Übersetzung hätte man hier ganz schön zu beißen. Lyrik ist schon so nicht einfach zu übersetzen, und hier müsste man immer noch mit Leconte de Lisles Quellen abgleichen, um zu sehen, was er allenfalls wörtlich übernommen hat, eine entsprechende deutsche Übersetzung davon finden, die den Sinn der französischen Quelle wiedergibt …

Meine Ausgabe ist also eine französische:

Leconte de Lisle: Poèmes barbares. Édition présentée, établie et annotée par Claudine Gothot-Mersch. Paris: Gallimard, 1985. [Dieses Jahr neu gekauft; Leconte de Lisles Gedichte sind also auch in Frankreich keine Bestseller. Mehr.]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert