Ausgerechnet in der Antarktis kam ihr (salopp formuliert) die Erleuchtung. Hanna Bjørgaas (Jahrgang 1986) arbeitete nämlich nach einem Studium der Biodiversität und Evolution in Oslo als Tourguide auf einem Kreuzfahrtschiff, das sensationshungrigen und zahlungswilligen Kund:innen Flora und Fauna einer noch unberührten Welt zu zeigen versprach. Bjørgaas war sich durchaus darüber im Klaren, dass auch die Antarktis nicht mehr unberührt ist und dass zum Beispiel die Pinguin-Kolonien (von denen man gerade eine besichtigte, als das Buch einsetzt) in den letzten Jahren etwa die Hälfte ihrer früheren Population verloren hatten. Im Moment war es aber ihre Aufgabe, dick in mehrere Kleidungsschichten eingepackt, darauf zu achten, dass ihre ebenso dick eingepackten und der leichteren Erkennbarkeit mit einer roten Windjacke versehenen Passagier:innen die vorgeschriebenen Wege nicht verließen. Die Versuchung dafür war nämlich groß, denn selbstverständlich wollte jede:r ein Bild von einem Pinguin schießen, auf dem dieser wirklich in unberührter Natur stand – will sagen: ohne irgendwelche rot gekleideten Personen im Hintergrund. Dann kam eine – ihrer Meinung nach deutsche – Passagierin auf sie zu und wollte ihr unbedingt ein Bild zeigen, dass sie gerade mit ihrem Handy gemacht hatte. In innerlich seufzender Erwartung eines weiteren Pinguin-Bildes schob sie ihre Sonnenbrille hoch und sah auf dem Display – eine Nahaufnahme von ein paar runden orangefarbenen Strukturen. Die Touristin fand die wunderschön und fragte, was das sein könne. Sie zeigte auf ein paar Steine, wo sie fotografiert hatte und die tatsächlich orange schimmerten. Es dauerte einen Moment, bis es der Biologin dämmerte, warum ihr diese orangefarbene Struktur so bekannt vorkam: Die Touristin hatte ein Flechte fotografiert – eine Gewöhnliche Gelbflechte (Xanthoria parietina wie hinzuzufügen sich die Biologin nicht enthalten kann). Diese wiederum hatte ich [Hanna Bjørgaas] schon oft gesehen, aber in vertrauterer Umgebung – auf Bäumen, Steinen und Beton, sogar in meinem Hinterhof [in Oslo] an einem Baum.
Es kommt, wie es kommen muss:
Meine Geschichte über die Natur der Stadt begann an einem strahlenden Sommertag im Dezember 2017 auf einer unscheinbaren Insel namens Deception Island – Insel der Täuschung – in der Nähe der antarktischen Halbinsel.
Im vorliegenden, aus dem Flechten-Aha-Erlebnis in der Antarktis entstandenen Buch folgen wir nun der Biologin auf ihren Kreuz- und Querzügen durch Oslo (und die angrenzenden norwegischen Provinzen). Als Rahmen nimmt sie ein Kalenderjahr (das auf ihren Aufenthalt in der Antarktis folgende), und ich weiß nun nicht, ob sie hierin bewusst dem Ahnherrn des ‚Nature Writing‘, Henry David Thoreau, folgt oder nicht – das Jahr als Einschnitt in den Geschehnissen der Natur bietet sich ja auch so an.
Im Lauf dieses Jahres entdeckt sie, dass auch eine Stadt ihr (vielleicht bescheideneres, aber doch) funktionierendes Ökosystem aufweist. Sie entdeckt und erforscht keineswegs alles, in jedem Fall aber fragt sie bei Spezialist:innen nach und lässt sich von deren Enthusiamus an ihrem jeweiligen Fach anstecken.
Wir haben also nach der Intro – Eine alte Bekannte (eben der Flechte in der Antarktis) folgende Kapitel bzw. ‚Forschungsreisen‘:
- im Januar Das Spiegelbild der Städter (die Krähen und Rabenvögel)
- im März Die Sängerin der Nacht (die Amsel)
- im April erklärt sie Krieg den Ameisen, die eine Invasion in ihre Küche gestartet haben und meditiert Über Sex, Gemeinschaft und dreckige Autoscheiben
- im Juni folgt Das Möwen-Parodox (nämlich, dass an der Meeresküste kaum mehr Möwen zu finden sind, während sie in der Stadt Oslo mittlerweile zahlenmäßig den Tauben das Futter streitig machen)
- im Juli sieht – nein riecht – sie Die Gespenster der Stadt (und meint die Linde)
- im August erzählt sie Geschichten aus dem Untergrund (die Mikroorganismen im Erdreich)
- im Oktober Die Grenzsprenger (die Fledermäuse)
- im November Die Schrift der Stadt (die Flechten – auch als Anzeiger der Luftqualität in der Stadt)
- im Dezember schließlich Das Naheliegende (der Spatz).
Auch wenn die Warmblüter am meisten Kapitel gekriegt haben, sind doch sämtliche Naturreiche vertreten. Hanna Bjørgaas’ Vorgehen ist immer ungefähr das gleiche: Sie wird auf ein Phänomen aufmerksam, staunt, beobachtet, liest und fragt bei Kolleg:innen nach, geht auf kleine Expeditionen (wandernd, Schiff fahrend, mikroskopierend) und fasst ihre Ergebnisse zusammen. Zwischendurch startet sie auch kleine Projekte, die scheitern – so, wenn sie wie Hölldobler und Wilson versucht, die Blattläuse der Ameisen zu ‚melken‘. Ihre Erzählungen sind frisch und interessant und bieten sicherlich allen Hobby-Biolog:innen Anregungen für eigene Tätigkeit. Anmerkungen und in diese integriertes Literaturverzeichnis fehlen nicht – bei letzterem ist es verständlich, aber schade für uns hier im deutschen Sprachraum, dass vieles von dem, was Hanna Bjørgaas anführt, auf Norwegisch abgefasst ist.
Die Autorin versteht es, mit ihrer Sprache und Erzählweise beim Publikum Interesse zu erwecken und man folgt ihr gern auf den Spuren all der unterschiedlichen Organismen, die die Stadt ‚bewohnen‘. Natürlich hat sie als Biologin in ihrer Heimatstadt Oslo, wo sie wohnt und studierte, gewisse Vorteile, wenn es darum geht, an kompetente wissenschaftliche Quellen zu kommen – so einfach ließen sich all ihre Fachleute von unsereinem nicht ausquetschen. Aber das macht gerade einen Teil des Reizes dieses Buchs.
Empfehlenswert für alle, die ein bisschen mehr auf die Natur in der Stadt achten möchten – selbst wenn sie nicht auf der Suche nach Fledermäusen in Höhlen herumkriechen oder neue Slips im Boden verbuddeln wollen (um die Mikroorganismen bei der Arbeit ertappen zu können).
Hanna Bjørgaas: Das geheime Leben in der Stadt. Nachrichten aus der urbanen Wildnis. Aus dem Norwegischen von Sabine Richter. München: Stroux, 2023. [Liebevoll mit Reproduktionen von speziell für diese Ausgabe erstellten und deshalb themenspezifischen Aquarellen ausgestattet, die doppelseitig die jeweiligen Kapitel einleiten.]
Wir danken dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
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