Charles-Augustin Sainte-Beuve: Menschen des XVIII. Jahrhunderts

Vor einem Hintergrund aus sich überlagernden farbigen Ovalen das stilisierte Porträt des Autors. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Nietzsche höchstpersönlich hat die vorliegende Übertragung von Essays des französischen Star-Kritikers Charles-Augustin Sainte-Beuve ins Deutsche angeregt. Das Buch erschien zuerst 1880 im Verlag von Ernst Schmeitzer in Chemnitz. Auf Grund seiner Entstehungsgeschichte wirft es jede Menge Fragen auf, denn es muss auf verschiedenen Ebenen gelesen werden. Wobei das Wort ‚Ebene‘ im Grunde genommen falsch ist; einige dieser Ebenen sind mehr Hochgebirge wie die Schweizer Alpen, entstanden aus der Kollision des mit rasender Geschwindigkeit mit Europa kollidierenden afrikanischen Kontinents – mehr Knautschzone als Ebene, und dann ragen auch schon mal Gesteinsschichten steil in den Himmel statt flach auf dem Boden zu liegen.

Als Ebenen sind da zunächst die drei Hauptbeteiligten: Nietzsche als Anreger der Übersetzung, Ida Overbeck als Übersetzerin und Charles-Augustin Sainte-Beuve als der Übersetzte. Nebenfiguren wie Franz Overbeck, Idas Mann, und natürlich die von Sainte-Beuve behandelten Autor:innen sind aber nicht zu vergessen.

Fangen wir mit Ida Overbeck an. Warum genau sie sich dazu überreden oder davon überzeugen ließ, die vorliegenden Essays zu übersetzen, ist mir nicht klar geworden. Sie sprach zwar fließend Französisch, war aber keine professionelle Übersetzerin – auch nicht nach den lascheren Maßstäben des ausgehenden 19. Jahrhunderts. (Sie hat denn auch später nichts mehr für die Öffentlichkeit übersetzt.) Aus zur selben Zeit wie die Übersetzung entstandenen autobiografischen Aufzeichnungen lässt sich schließen, dass sie ihre Stellung in ihrer Ehe als problematisch empfand. Nicht nur, weil sie versuchte, ein Haus zu führen, wie es ihrer Meinung nach einem Professor der Universität Basel anstand, ihr Mann aber dafür eigentlich zu wenig Gehalt erhielt. Da war eben auch Nietzsche. Eine Zeitlang waren er und ihr Mann beste Freunde gewesen, hatten sich sogar eine Wohnung geteilt, bis Overbeck dann eben sie geheiratet hatte. Die Freundschaft der beiden litt darunter keineswegs, sie sollte bis zum Ausbruch der Umnachtung bei Nietzsche anhalten. Nietzsche aber versuchte offenbar, nun auch Ida einzubeziehen bzw. sie für seine Zwecke nutzbar zu machen. Und hier ging es nun nicht nur darum, dass er – zu jener Zeit noch ein großer Verehrer der französischen Aufklärung – jemand suchte, der ihm diese Texte übersetzte, weil sein eigenes Französisch nicht genügte, sie zu verstehen. In jener Ecke der Schweiz sprachen damals (und sprechen auch heute) viele fließend Französisch; auch Franz Overbeck hätte diese Texte übersetzen können. Ida Overbeck aber war es auch, die auf seinen eigenen Wunsch Nietzsches Flamme Lou Andreas-Salomé die ungeschminkte Wahrheit über ihn erzählen sollte – was sie offenbar nicht wenig irritierte. In ihrer Übersetzung ist sie, wie es meistens bei Anfänger:innen und Nicht-Professionellen der Fall ist, stark dem französischen Periodenbau verhaftet geblieben, was man der Übersetzung auch in einer der wenigen Kritiken, die das Buch erhielt, zum Vorwurf gemacht wurde. Damals war es üblich, dass man nicht das Wort übersetzte, sondern den ‚Geist‘ eines literarischen Textes. Heute käme Ida Overbeck wohl besser weg; ich für meinen Teil habe jedenfalls am Text, der natürlich und flüssig daherkommt, nichts auszusetzen gefunden.

Nietzsche also. Wie gesagt, damals (gerade noch) sehr interessiert an der französischen Aufklärung, in der er wohl vieles wiederfand von dem, was er selber plante bzw. erreichen wollte. Er sollte sich schon kurze Zeit später sowohl von der französischen Aufklärung wie von Sainte-Beuve lossagen – unter zum Teil seltsamen Begründungen. So konnte er einem Autor heute vorwerfen, zu wenig kaltblütig zu schreiben, um ihm im nächsten Text allzu große Kälte vorzuwerfen. Schon bei der (einzig von ihm getroffenen) Auswahl für dieses Buch, verwarf er, weil er ihm zu spitzzüngig war, von einem Tag auf den anderen Chamfort, den Ida Overbeck gerade zu übersetzen begonnen hatte (also: den Essay Sainte-Beuves zu Chamfort) und wünschte an seiner Stelle Fontenelle inbegriffen zu sehen.

Schließlich Sainte-Beuve. Über Jahre hinweg hatte er in verschiedenen Zeitungen jeden Montag einen Artikel einem literarischen Thema (einem neu erschienen Buch oder einem/r Autor:in) veröffentlicht – die so genannten Causeries du lundi („Montags-Plaudereien“). Er war damit so etwas wie ein Blogger avant la lettre. Und wenn wir hier auf litteratur.ch ebenfalls regelmäßig zu literarischen Themen schreiben, so ist der große Unterschied nicht nur das Honorar, das Sainte-Beuve für seine Arbeit erhielt, sondern auch die Länge der Texte und die aufwändige Recherche, die der Franzose hineinsteckte. (Es gab ja noch kein Internet und keine Suchmaschinen.) Und dies jede Woche! Das Schreiben von Literaturkritiken wurde unter seiner Hand zu einer eigenen Kunstform ausgebildet – da mag selbst Proust sich dann noch so sehr gegen ihn gewendet haben.

Natürlich sind nicht alle von Nietzsche gewählten Essays große Kunstwerke. (Nebenbei: die vom Deutschen ausgewählten und unter dem Titel Menschen des XVIII. Jahrhunderts zusammen gestellten Texte waren von Sainte-Beuve nie für eine solche Zusammenfügung gedacht. Wir haben einzelne und unabhängig voneinander entstandene Texte vor uns, zwischen deren Publikation dann auch oft einige Zeit liegt. Außerdem war Sainte-Beuves Lieblingsepoche die Zeit von Louis XIV – also das vorher liegende Jahrhundert. Wir finden in Nietzsches Auswahl aus Sainte-Beuves Essays, alle aus den Jahren 1850 bis 1852, folgende Autor:innen (mit zum Teil mehreren Texten) chronologisch geordnet:

  • I. Fontenelle [Enkel der beiden Corneille, der tatsächlich eine Sattelzeit-Erscheinung war, so zum Beispiel auch in der „Querelle des anciens et des modernes“ als „moderne“ noch eine wichtige Rolle spielte, bevor er dann in die Frühaufklärung einschwenkte. Von Sainte-Beuve wird er entsprechend mehr als Klassizist denn als Aufklärer behandelt.]
  • II. Montesquieu [den Sainte-Beuve als politisch naiv betrachtete und den er gern mit Machiavelli gepaart gesehen hätte.]
  • III. Briefe der Frau von Graffigny oder Voltaire in Cirey [worin es Sainte-Beuve viel mehr um Voltaire geht als um die soeben erschienene Ausgabe der Briefe von Madame de Graffigny]
  • IV. Frau Du Châtelet. Fortsetzung von Voltaire in Cirey [der fürchterlichste der hier versammelten Essays. Nicht nur, dass Sainte-Beuve kein Naturwissenschaftler ist, nicht einmal Wissenschaftshistoriker, und demzufolge die Fähigkeit der Émilie du Châtelet als Physikerin und Mathematikerin zwischen Newton, Descartes und Leibniz nicht schätzen kann – er ist auch voll bösartigen und voyeuristischen Klatsches, ganz nach dem Motto: Man sagt es, und ich glaube es zwar nicht, aber der Vollständigkeit halber will ich das hier doch noch mitteilen … Hier sehen wir die Schattenseiten von Sainte-Beuves ansonsten durchaus schätzenswerten Methode, sein Thema von allen Seiten zu beleuchten und, um bei den Tatsachen zu bleiben, sich vorwiegend auf die biografischen Einzelheiten festzulegen – auch diese um Neutralität bemühte Methode kann bösartig eingesetzt werden.]
  • V. Frau von La Tour-Franqueville und Jean-Jacques Rousseau [wo er nun meines Erachtens Rousseau allzu sehr schont]
  • VI. Diderot [der beste, schönste aller hier versammelter Essays. Sainte-Beuve schildert hier, wie Diderot, der wenig bis nichts von Malerei verstand, eines Tages dazu verleitet wurde, sich doch als Kunstkritiker zu versuchen und er nun eine Form fand, sich in den Künstler einzufühlen und ihn zu motivieren, die Sainte-Beuve eindeutig als die ideale Vorgehensweise einer jeden Art von Kritik, also auch der seinen, betrachtet – und die rechtfertigt, warum Sainte-Beuve die Literaturkritik als eine literarische Kunstform propagierte.]
  • VII. Vauvenargues [ein Liebling Sainte-Beuves, aber der Essay und der geschilderte Mensch bleiben farblos.]
  • VIII. Briefe des Fräulein von Lespinasse [von Sainte-Beuve als das Modell der Salonnière der französischen Aufklärung vorgebracht.]
  • IX. Beaumarchais [eine der schillerndsten Figuren jenes Jahrhunderts, von Sainte-Beuve durchaus wahrheitsgetreu geschildert. Warum Nietzsche diesen Menschen in seiner Auswahl stehen liess, aber Chamfort entfernt sehen wollte, erschließt sich mir nicht.]

Das Buch erschien, wie gesagt, 1880 – ohne Angabe der Übersetzerin, ohne Einführung oder weitere Erklärungen. Als der Verlag Konkurs ging, muss noch eine ziemliche Menge der Auflage vorhanden gewesen sein, jedenfalls würde der Verlag, der die Konkursmasse jenes Verlages aufkaufte, der die des Originalverlags gekauft hatte, noch genügend Exemplare haben, eine als 2. Auflage verkleidete Kopfauflage zu erstellen (will sagen: das Titelblatt mit der Verlagsangabe wurde ausgewechselt und ansonsten einfach alles neu gebunden). Und selbst jetzt, bei der 2014 erschienenen Neuauflage in der Anderen Bibliothek, mit allen Angaben und sogar mit Nietzsches Namen als Zugpferd, scheinen sich die Menschen des XVIII. Jahrhunderts nicht zu verkaufen: Mein vor kurzem erst gekauftes Exemplar trägt die Nummer 2625 von 4444. Warum der Erfolg so gering ist, kann ich nur raten. Kann auch der Herausgeber, Andreas Urs Sommer, wohl nur raten. Denn, dass, wie er vorschlägt, Sainte-Beuve im deutschen Sprachraum an den abfälligen Bemerkungen zuerst Nietzsches, dann Prousts, gescheitert ist, glaube ich nicht so ganz. Es wird wohl eher so sein, dass Sainte-Beuve in seinen Kritiken sich meist im frankophonen Raum bewegt und der eine oder andere Name fällt, der im deutschen Sprachraum allenfalls noch Romanist:innen geläufig ist.

Dennoch oder gerade deswegen kann ich diesem Buch seine Berechtigung nicht absprechen – auch wenn wir unser Interesse bei der Lektüre mindestens so sehr auf Nietzsche legen müssen wie auf Sainte-Beuve. Von Ida und Franz Overbeck ganz zu schweigen.


Charles-Augustin Sainte-Beuve: Menschen des XVIII. Jahrhunderts. Übersetzt von Ida Overbeck, initiiert von Friedrich Nietzsche. Mit frisch entdeckten Aufzeichnungen von Ida Overbeck neu ediert von Andreas Urs Sommer. Berlin: Die Andere Bibliothek, 2014.

1 Reply to “Charles-Augustin Sainte-Beuve: Menschen des XVIII. Jahrhunderts”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert