Nicolas Chamfort: Maximes et pensées, caractères et anecdotes [Alle Gedanken, Reflexionen und Maximen]

Ein runder, roter Wehrturm ragt in einen wolkenverhangenen Himmel. Die Spitze zeigt bereits Spuren der Zerstörung. Ausschnitt aus dem Buchcover, das seinerseits das Gemälde "Démolition de la Bastille" von Hubert Robert (heute im Musée Carnavalet) aus dem Jahr 1789 verwendet.

Nietzsche, als er die Männer aussuchte, die Ida Overbeck, die Frau seines Freundes Overbeck in Basel, übersetzen sollte für das Buch Menschen des XVIII. Jahrhunderts, ließ im letzten Moment Chamfort ersetzen durch Beaumarchais. Dennoch ist Jean Dagen, der Herausgeber des vorliegenden Buchs, der Meinung, dass Chamfort in vieler Hinsicht Einfluss gehabt habe auf eben diesen Nietzsche. Ganz Unrecht hat er nicht, und vielleicht fühlte Nietzsche auch, dass er in viel zu vielem mit Chamfort verwandt war, das er nicht einmal vor sich selber unbedingt wahr haben wollte.

Chamfort nämlich ist (ähnlich übrigens wie sein Substitut in Nietzsches Auswahl, Beaumarchais – die beiden kannte sich persönlich, nebenbei gesagt) mit dem Maul (bzw. der Feder) radikaler als im Leben selber. Auf dem Papier war er ein vehementer Anhänger der Republik, der Ziele der Französischen Revolution. Im Leben war er in vielem abhängig vom Hause Bourbon, der königlichen Familie. Chamfort war sich dieser bizarren Situation durchaus selber bewusst und thematisiert sie sogar in einigen seiner Aperçus.

Auch literarisch findet sich Sébastien-Roch Nicolas, wie er ursprünglich hieß, zwischen den Stühlen. Er wird den so genannten ‚moralistes‘ zugezählt. Das sind keine Moralprediger (was sie zwar manchmal auch tun), sondern darunter versteht man eine locker zusammen gefasste, also wenig homogene literarische Strömung, deren Vertreter (oft in klein geschnittenen und gut verdaulichen Häppchen) die Sitten (lateinisch ‚mores‘) und Handlungsweisen ihrer Mitmenschen beobachten, beschreiben und deuten. Man rechnet Montaigne ebenso dazu wie Pascal, La Rochefoucault, La Bruyère, Vauvenargues, Rivarol oder Montesquieu. Keine Schule also – eine Denk- und Schreibweise. Zwischen den Stühlen steht Chamfort nun vor allem deswegen, weil er sich nicht nur inhaltlich sondern auch stilistisch an seinen Vorgängern orientiert. Sein klassischer, an La Bruyère geschulter Stil hat aber leider die Tendenz, (wie sein Vorbild auch) langatmig und in der Argumentation kompliziert zu werden – nicht zu reden davon, dass ihre Beispiele und Vorbilder (die guten wie die schlechten) meist im Bereich des Absolutistisch-Höfischen beheimatet sind und heute oft mit Fußnoten und historischen Anmerkungen erklärt werden müssen.

Wirklich interessant und heute noch nicht nur lesbar sondern auch lesenswert sind aber die Teile, die unter dem Titel ‚Anekdoten‘ figurieren. Nicht alles zwar, aber da hat es doch sehr gute und witzige Dinge dabei, die oft genug auch mehr über die Verursacher:innen der Anekdote verraten, als denen wohl lieb war. Auch hier sind Chamforts ‚Protagonisten‘ und ‚Protagonistinnen‘ meist im adligen Umfeld zu suchen. Gern finden wir uns im Umfeld der drei Ludwige wieder, die das 18. Jahrhundert in Frankreich dominiert haben: Louis XIV, Louis XV und Louis XVI. Hin und wieder greift Chamfort bis auf Henri IV zurück. Mehr aber noch als dieser werden Anekdoten über den ‚König der Preußen‘ erzählt. Sein Name wird, wenn ich das richtig gesehen habe, nie genannt – aus seinen Gesprächspartnern lässt sich schließen, dass Chamfort Friedrich den Großen meint. Die Gesprächspartner nämlich sind oft Voltaire oder D’Alembert – neben Diderot und Rousseau die wichtigsten Vertreter der Aufklärung aus der Zeit vor der Revolution, von denen Chamfort ebenfalls einige Anekdoten weiter reicht. Einige dieser Schnurren haben die Zeit überstanden und finden sich auch heute noch wieder in anderen Sammlungen. Ein paar andere sind zu ‚Wander-Anekdoten‘ geworden (oder waren es schon zu Chamforts Zeit) und wurden seither in ähnlichem Wortlaut auch anderen Protagonist:innen zugeschrieben.

Zusammengefasst: Wer nicht als Historiker:in lesen will, muss diese rund 400 Seiten auf Goldwäscher-Art lesen. Ich zumindest bin aber noch fündig geworden und würde Chamfort jederzeit weiter empfehlen.


Meine Ausgabe:

Chamfort: Maximes et pensées, caractères et anecdotes. Chronologie, préface et index par Jean Dagen. Paris: Garnier-Flammarion, 1968.

[Ob die letztes Jahr bei Matthes & Seitz erschienene Ausgabe mit dem Titel Alle Gedanken, Reflexionen und Maximen der meinen entspricht, die ebenfalls vollständig zu sein vorgibt, kann ich nicht beurteilen. Ich kenne die deutsche Ausgabe nicht.]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert