Heinrich Böll: Doktor Murkes gesammeltes Schweigen

Auf hellgrünem, in der Mitte dunkelgrünem Hintergrund die Zeichnung eines Fisches (der noch ein bisschen dunkler grün ist), aus dessen geöffnetem Maul drei Luftblasen entweichen. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs standen die Kunstschaffenden in Deutschland im Grunde genommen vor einer grünen Wiese. Man könnte auch sagen: vor einem Trümmerfeld. Weshalb denn in der Literatur als erste neue Richtung das entstand, was man später ‚Trümmerliteratur‘ nennen sollte: Geschichten vom Leben kurz nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs, Geschichten vor allem auch (denn die meisten neuen deutschen Autoren waren junge Männer) von der Heimkehr traumatisierter junger Soldaten, die – halbe Kinder noch – im letzten Moment an die Fronten geworfen wurden. Was nicht stattfand, was auch später für Jahrzehnte nicht stattfinden würde, war eine Auseinandersetzung mit der Schuld am Holocaust. Es schien allgemeiner Konsens, dass die mit den Nürnberger Prozessen abgegolten war. (Außerdem brauchten die jungen deutschen Staaten Verwaltungspersonal und Juristen, um den Betrieb aufrecht zu erhalten – weshalb praktisch niemand, der unter den Nazis in diesen Bereichen aufgestiegen war, einen Karrierebruch oder gar ein Karriereende erlebte.) Auch die Söhne und Töchter der Schuldigen, die Autor:innen der Trümmerliteratur und der frühen Adenauer-Zeit, hielten sich recht brav an diesen Konsens. Erst die Enkel:innen und Urenkel:innen sollten anfangen, Fragen zu stellen und mit dem Finger auf solche Karrieristen (es waren praktisch nur Männer) zu zeigen.

Einer aber der Söhne der Schuldigen hieß Heinrich Böll. Auch er wurde als junger Mann in den Krieg geschickt, auch er begann mit dem Schreiben von Trümmerliteratur: Der Zug war pünktlich; Wanderer, kommst du nach Spa… etc. Anfang der 1950er dann wurde er mehr und mehr zu einem kritischen Begleiter der jungen BRD, was er bis zu seinem Tod 1985 bleiben sollte.

Kein Wunder also, das ich als junger Mann mir praktisch alles gekauft habe, was von Böll an Belletristik auf den Markt kam. (Er löste in dieser Rolle, nebenbei, Hermann Hesse ab, den ich seinerseits zu spät kennen lernte, um wirklich noch von ihm eingewickelt zu werden: Zum Zeitpunkt als andere Hesse lasen, las ich Hemingway – womit sich der Kreis zu Böll insofern schließt, als seine frühen Kurzgeschichten in ihrer lapidaren Erzählform sich stark an Hemingway orientierten).

Allerdings will mir scheinen, dass Bölls Belletristik schlecht gealtert ist. Er war unbestreitbar in seiner Funktion als Kritiker und Mahner für die BRD, wie sie sich im Mief der 1950er entwickelte und in diesem Mief – trotz 68er Bewegung – bis zu seinem Tod verblieb, zusammen mit seinem Antagonisten Grass eine unverzichtbare Figur, und ich wage nicht, mir auszumalen, was aus der BRD geworden wäre, hätte nicht Böll von Zeit zu Zeit den Daumen auf gewisse Dinge gehalten. Aber sein an Hemingway geschulter Stil erweist sich für mich im Nachhinein als nicht tragfähig für Prosawerke jenseits einer Kurzgeschichte. Auch erzählt Böll im Grunde genommen immer die gleiche Geschichte: die eines Außenseiters oder einer Außenseiterin, die in der deutschen Gesellschaft aneckt, darin ihre Freiheit erkämpfen und oft aber auch sich mehr oder weniger mit ihr arrangieren, indem sie sich ihre Freiräume auf sehr eigenwillige Art erschaffen – Freiräume dennoch, innerhalb derer sie sich selber treu bleiben können.

Ich habe vor ca. einem Dutzend Jahren alle Romane von Böll wieder angelesen – und alle nach ein paar Seiten wieder weggelegt. Die BRD, gegen die sich seine Protagonist:innen auflehnen, existiert so nicht mehr, und anderes als eine Auseinandersetzung mit der BRD liefert Böll kaum. Seine viel gelobte Psychologie wollte mir hausbacken erscheinen. Das einzige Buch, das den Test einer erneuten Lektüre bestanden hatte, war das vorliegende Doktor Murkes gesammeltes Schweigen. Es hat, wie man gleich lesen wird, auch noch den Test einer Lektüre im Jahr 2023 bestanden.

Es ist ein dünnes Büchlein und enthält auf nicht ganz 150 Seiten fünf Kurzgeschichten, von denen nur eine etwas abfällt: Hauptstädtisches Journal erzählt in der Ich-Form von einem hochrangigen Offizier (er wird im Lauf der Geschichte zum General avancieren), der eine Art Museum eröffnet, die Akademie für militärische Erinnerungen. So wichtig das Thema wäre, die Auseinandersetzung mit dem Militarismus, so schlecht gelingt Böll die Imitation des kurzen Kommandostils eines Offiziers, die er hier zu verwenden versucht. Auch verliert sich der Ich-Erzähler in zu vielen Nebengeleisen (z.B. einer Affäre mit einer junger Dame von Adel), als dass wirklich Interesse an ihm aufkommen könnte.

Dafür sind die vier anderen Kurzgeschichten um so besser. Die titelgebende Doktor Murkes gesammeltes Schweigen gleich am Anfang. Murke, promovierter Psychologe, arbeitet als Redaktor in der Abteilung ‚Wort‘ eines Funkhauses. Bei einer Zeitung hätte man gesagt, beim ‚Feuilleton‘. Er soll die schon aufgezeichnete Rede eines gewissen Bur-Malottke noch zusammen mit dem Redner abändern. Bur-Malottke hat metaphysische Skrupel bekommen. Er verwendete in seiner Rede oft den Begriff ‚Gott‘, weil er (in der Nazi-Zeit) sich als gläubiger Mensch fühlte (oder gerierte). Nun fällt sein Glaube wieder von ihm ab, und er möchte ‚Gott‘ ersetzt sehen durch ‚jenes höhere Wesen, das wir verehren‘. Wir sind in der Zeit der Spulentonbänder, wo jedes ‚Gott‘ von Hand herausgeschnitten werden muss, jedes ‚höhere Wesen‘ neu eingesprochen und hineingeklebt – inklusive der Tatsache, wie Murke gegenüber Bur-Malottke maliziös bemerkt, dass ‚Gott‘ in Nominativ, Dativ, Akkusativ und Vokativ gleich lautet, während nun diese Formen unterschieden werden müssen. Eine herrliche Satire nicht nur auf die Hohlheit, mit der schon damals religiöse Fragen behandelt wurden, sondern auch auf die Hohlheit gewisser in der Öffentlichkeit und deshalb in Rundfunk (und heute auch TV und Internet) gehypter Pseudo-Intellektueller.

Nicht nur zur Weihnachtszeit fährt mit der Kritik am der Pervertierung der Religion fort. Hier ist es eine Tante des Ich-Erzählers, die eines Weihnachtstages (genauer: -abends) nicht mehr aufhören will, ihre kitschige Weihnachten zu feiern. Über Jahre hinweg ist nun die Familie verdammt, jeden Abend eine Weihnachtsfeier durchzuführen, was schließlich zu deren völligem Zerfall führt. Schöner und subtiler, als hier geschehen, kann man nicht darstellen, wie der Kapitalismus einen eigentlich besinnlichen Feiertag kapert und zu reinem Kitsch und Kommerz aushöhlt.

Es wird etwas geschehen führt die Kritik am Kapitalismus weiter. Der Ich-Erzähler, ein kluger junger Mann, hat sich um eine Stelle in Alfred Wunsiedels Fabrik beworben. Er durchschaut den Einstellungstest und kann sich als jemand präsentieren, dem keine Arbeit zu viel ist. Er erhält den Job und tatsächlich bedient er zum Schluss dreizehn Telefone gleichzeitig. Sein Trick ist es, auf jeden Anruf nur mit einer Variation des Titels zu antworten und wieder aufzuhängen. Dann geschieht tatsächlich etwas: Wunsiedel stirbt in seinem Büro. Beim Begräbnis wird der junge Mann von einem Bestatter angesprochen, der ihn für den idealen Trauernden hält und ihm anbietet, dies bei ihm berufsmäßig auszuüben. Hier haben wir den für Böll typischen Außenseiter, dem es gelingt, das System auszutricksen und in einer Nische des Kapitalismus nach seiner Veranlagung leben zu können.

Das gelingt auch dem Wegwerfer, dem Protagonisten der letzten Kurzgeschichte, die eben diesen Titel trägt. Wieder ist es ein junger Mann, diesmal einer, der über Jahre berechnet hat, wie viel Zeit eine Firma sparen kann, wenn sie die Werbung gleich beim Posteingang zentral aussortieren und wegwerfen lässt. Er wird denn auch von einer Firma dafür angestellt und fährt nun jeden Morgen mit der Straßenbahn zu seinem Arbeitsort – angezogen wie ein normaler Büroangestellter und auch mit dem sorgfältig an diese Rolle angepassten Gesichtsausdruck. Seine Firma aber betritt er durch den Hintereingang und sein Arbeitsort ist im Keller, wo er die Post vorsortiert. Er weiß, dass er offiziell als geisteskrank gilt und als asozial – aber auch er hat seine Nische gefunden, selbst wenn er nicht in der Öffentlichkeit dazu stehen möchte.

Eines gilt letztlich für jeden der jungen Männer, die hier als Protagonisten auftreten: Alle sind sich ihrer prekären Situation bewusst. Sie leben gewissermaßen von einem Tag auf den anderen. Sicherheit, das zieht sich durch alle fünf Satiren hier, gibt es keine mehr.

Ein dünnes Büchlein, das ich – trotz der einen Geschichte, die durchfällt – nach wie vor empfehlen kann.

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 10

1 Reply to “Heinrich Böll: Doktor Murkes gesammeltes Schweigen”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert