Lewis Carroll: Sylvie & Bruno

Karikatur einer Maus, die einem in einem Ohrensessel sitzenden Krokodil in dessen weit aufgesperrtem Maul die Zähne reinigt. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Alle kennen Alice im Wunderland, und sei es nur von einer mehr oder weniger gruseligen Adaption für Film, Funk oder Fernsehen. Auch Alice hinter den Spiegeln ist wohl den meisten ein Begriff, obzwar ich schon erlebt habe, dass man es für das gleiche Buch hielt wie Alice im Wunderland und nicht für dessen Fortsetzung. Aber Sylvie & Bruno?

Dabei war dieser Roman das eigentliche Herzensprojekt von Charles Ludwidge Dodgson, der sich als Autor „Lewis Carroll“ nannte (einen anglisierten ‚Ludwig‘ und einen latinisierten ‚Karl‘ aus seinen Vornamen machend). Und es war dieser Roman, nicht die Kinderbücher, der Arno Schmidt dazu brachte, Carroll den Ahnherrn der modernen Literatur zu nennen. Während Joyce für Finnegans Wake aus Sylvie & Bruno vor allem die Wortspiele nahm, die Verfremdungen englischer Ausdrücke in Sprachen aller Herren Länder, übernahm Schmidt daraus für seinen Roman KAFF auch Mare Crisium den Umstand, dass die Geschichte abwechslungsweise in zwei Welten spielt, von denen die eine eine sehr phantastische ist (bzw. bei Schmidt eben Science Fiction).

Dennoch verwundert es mich nicht, dass Sylvie & Bruno nicht so bekannt geworden ist wie die Romane um Alice. Schon die Erstausgabe in zwei Bänden (Sylvie and Bruno, 1889, und Sylvie and Bruno Concluded, 1893) hatte so geringen Erfolg, dass der Verleger schließlich Lewis Carroll überredete, den Verkaufspreis um 50% zu senken – ohne Erfolg. Die beiden Bücher blieben Ladenhüter. Den Grund kann ich hier schon zusammenfassen: Selten ist ein Buch mit einem so interessanten und witzigen Anfang von seinem Autor schon nach dem ersten Viertel derart zu Schanden geritten worden wie dieses. Lewis Carroll wollte hier viel, zu viel – und er ist grandios gescheitert.

Sie hätten doch den Durchbruch bringen sollen für den Autor, diese beiden Bücher. Weg vom Bild eines leicht spinnerten Verfassers von halb verrückten Kinderbüchern wollte der nämlich und sich den Ruf eines seriösen Schriftstellers für Erwachsene erarbeiten. (Anders als der Übersetzer und Verfasser des Vorworts meiner Ausgabe, Dieter H. Stündel, dort meint, ist das hier kein Kinderbuch – jedenfalls nicht in der Intention seines Autors.)

Für ein Erwachsenen-Buch war es natürlich nicht so geschickt, einen Teil der Handlung in einer Art Feenland spielen zu lassen. Ja, der Roman setzt sogar dort ein: Der (den ganzen Roman hindurch namenlos bleibende) Ich-Erzähler erlebt mit, wie einige ziemlich seltsame und urkomische Gestalten planen, den aktuellen Gouverneur ihres Landes mit Hilfe eines (wie wir heute sagen würden) gefakten Volksaufstandes abzusetzen – mit seinen Wortspielen und -verwechslungen einer der witzigsten Romananfänge der Literaturgeschichte. Aber eben.

Wir erleben im Folgenden, wie es den Verschwörern zunächst gelingt, an die Macht zu kommen, sie aber letztlich doch scheitern, bzw. nur als Geläuterte weiter regieren dürfen, wir hören und sehen in diesem Feenland einige der schönsten und komischsten Gestalten und einige der witzigsten Wortverdrehungen und Gedichte, die uns Lewis Carroll hinterlassen hat – und vor allem: Wir treffen auf das Geschwisterpaar Sylvie und Bruno, die beiden Kinder des rechtmäßigen Gouverneurs, die (ist man versucht zu sagen) ihrerseits in einer Art Traumwelt innerhalb dieser Traumwelt leben. Es sind die zwei lieblichsten und liebsten Kinder, die wohl je in einem Buch geschildert worden sind. Sylvie, die ältere, ist auch die vernünftige, aber es ist Bruno, der durch wörtliches Verstehen einer Aussage die komischen Akzente setzt. Im Großen und Ganzen aber wandern die beiden immer nett und freundlich durch die beiden Bücher.

Man ist versucht zu sagen, dass das doch Stoff gewesen wäre für ein gutes Buch, ein Kinderbuch allerdings. Es gab denn auch schon bald nach Dodgsons Tod den Versuch verschiedener Bearbeiter, den Roman zu kürzen, indem man nur die im Feenland und von Sylvie und Bruno handelnden Teile behielt. Allerdings ging das nicht nur gegen Lewis Carrolls Versuch, einen ernsthaften Roman zu schreiben – es nahm der Geschichte auch jede Spannung und die Feengeschichte ist dann doch allzu süß ohne das Gegenmittel einer Handlung, die in der ‚normalen‘ oder ‚realen‘ Welt spielt. (Natürlich ist auch die ‚reale‘ Welt des Romans im Grunde genommen fiktiv, aber sie ist so konstruiert, dass sie der wirklich realen viktorianischen Welt einigermaßen entspricht.)

Der Ich-Erzähler ist zu Beginn der einzige Mensch, der in einer Art somnambulem Zustand in die Feenwelt eindringen kann. Zunächst ist er dort für alle unsichtbar und unhörbar. Das ändert im zweiten Buch, wo nun mindestens einige der Feenwesen mit ihm kommunizieren – darunter natürlich die beiden Protagonisten der Feenwelt, Sylvie und Bruno. Diese sind es auch, denen es dann gelingt, sich ihrerseits in der realen Welt sicht- und hörbar zu machen.

Doch die reale Welt weist auch noch einen eigenen Plot auf. Da ist der viel jüngere Freund des Ich-Erzählers (der zwischen 60 und 70 Jahren alt sein muss), ein Arzt, der sich in die einzige Tochter des benachbarten Gutsbesitzers verliebt hat. (Wenn in der Parkland-Ausgabe, die ich besitze, als Untertitel Die Geschichte einer Liebe steht, so ist das zum einen ein Zusatz dieser einen Übersetzung, vernachlässigt zum andern den Part des Romans, der in der Feenwelt handelt und ist drittens insofern irreführend, als das Liebespaar eben nicht aus den im Titel angeführten Sylvie und Bruno besteht.) Doch die Angebetete des Arztes ist schon seit einiger Zeit mit ihrem Cousin verlobt, der dann auch die Szene betritt. Es kommt allerdings zu einem schweren Zerwürfnis und der Arzt gewinnt das Herz der Schönen. Am Tag der Heirat erfahren die Menschen von einer Art Pest, die in einem nahen Fischerdorf wütet, wo die Menschen nun wegsterben wie die Fliegen – darunter auch der einzige Arzt vor Ort. Nobel und pflichtbewusst, wie er halt ist, beschließt der junge Ehemann, an dessen Stelle ins Dorf zu gehen. Als die Seuche dann abebbt, wird er unter den Toten gefunden. Vermeintlich. Denn ganz zum Schluss stellt sich heraus, dass man ihn verwechselt hat und er ‚nur‘ einer der Schwerstkranken war, die man in ein nahe gelegenes Spital führte. Ausgerechnet der ehemalige Konkurrent ist es, der den jungen Gatten wieder der Gattin zuführt. Happy Ending.

Aber eines mit einem schalen Beigeschmack. Nicht nur, weil das Ganze eine so platte Ethik vertritt, dass noch Karl May daneben stehen kann wie Kant und Hegel persönlich. Nein, das Ding noch viel kitschiger ausgeführt ist, als es meine Zusammenfassung schildern kann, und wo der zugegeben auch vorhandene Kitsch in der Feenwelt austariert wird durch die Komik der Figuren, fehlt das in der ernsthaften Welt der Erwachsenen – i.e. der Realität – völlig. Da wird die schlechte Konstruktion des Plots völlig unwichtig, wo zum Schluss zwar sogar ein paar Feenwesen die Menschenwelt besuchen können und umgekehrt, aber das eine oder das andere keinen Einfluss auf die jeweilige Handlung hat (die beiden Handlungsstränge bleiben trotz möglicher und stattfindender Interaktionen seltsam unberührt von einander), sondern vor allem weil an allen Ecken und Enden das Bemühen des Autors durchdrückt, einen ernsthaften Roman zu schreiben. So wollte Lewis Carroll zum Beispiel Probleme der Theologie und Teleologie, der Willensfreiheit und der britischen Ökonomie ebenso besprochen wissen wie er im Streit zwischen High Church und Low Church der Zeit Stellung nahm. Nun hatte Dodgson nicht nur Mathematik sondern auch Theologie studiert, sogar die Priesterweihe genommen (allerdings nie als Priester gearbeitet, sein Stottern hinderte ihn daran) – so mögen diese Themen als solche weniger überraschen.

Doch er schaffte nicht, was sein ebenfalls sehr konservativer Autorenkollege Anthony Trollope keine 50 Jahre vorher spielend geschafft hatte, als er theologische und die in der Geschichte der anglikanischen Kirche begründeten Konflikte zwischen High Church und Low Church zum treibenden Motiv der beiden ersten Romane der Chronik des fiktiven County Barsetshire machte (The Warden und Barchester Towers, auch wenn letzteres Längen aufweist). Außer dem Umstand, dass der Cousin und erste Verlobte als Atheist geschildert wird, der der gläubigen jungen Gutsbesitzerin dann deswegen doch nicht so recht konvenierte, während der junge Arzt selber gläubig ist, ist alles, was Lewis Carroll mit diesen Fragen machen kann, dass er sie von den Menschen – diskutieren lässt, bis sich jeweils in kürzester Zeit eine apodiktisch vorgetragene Meinung als einzig richtige erwiesen hat. Aber wenn der Ich-Erzähler über die künstliche (er nennt sie in meiner Übersetzung orthodoxe) Art, Predigten zu halten, die in London herrscht und dagegen vorteilhaft die biedere Art der Landprediger hält, so bringt das die Handlung in keiner Weise voran. Es ist einfach nur die Privatmeinung des Menschen Dodgson, die er – seinerseits in der biederen (andere würden sagen: plumpen) Art eines Landpredigers (der er wohl ohne sein Stottern geworden wäre) äußern lässt.

Ewig schade um die guten Teile, aber sie sind unrettbar mit dem Rest verbunden, und so bleibt der Roman wohl eher etwas für jene, die auch mal etwas abseitigere, wenn auch nicht unbedingt ‚gute‘ bzw. perfekte Literatur lesen möchten. Und für alle von Lewis Carroll so oder so Begeisterten.

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