J. M. R. Lenz: Der Hofmeister

Zeichung von Quint Buchholz: Porträt J. M. R. Lenz, 1991. Man sieht im Ausschnitt aus dem Buchcover nur die Augenpartie und die Nase.

Lenz entdeckte seine literarische Begabung und Berufung wohl im Straßburger Kreis um Goethe und Herder, mit denen er dort Freundschaft geschlossen hatte. Was Goethes Freundschaft wert war, sollte er erleben, als er ihn – der unterdessen in Weimar in den besten Kreisen arriviert war – ebendort besuchte, dem alten ‚Freund‘ aber lästig wurde, worauf dieser ihn des Landes verweisen ließ. Spätestens von jenem Moment an hielt sich – vielleicht ein paar Spezialist:innen ausgenommen – das Bild von Lenz, dem Nachäffer Goethes. Ein Bild, das auch Goethe kräftig befeuerte.

Liest man nun aber Lenz’ Hofmeister, muss man sagen: Sturm und Drang: ja, Goethe: nur bedingt. Zunächst einmal ist Lenz bedeutend gesellschaftskritischer eingestellt (wie man heute sagen würde). Nicht zuletzt dies hat wohl Brechts Interesse am Hofmeister geweckt – darüber vielleicht ein andermal. Wo beim Sturm und Drang-Goethe die großen Egoisten die Hauptrolle spielen (es ist beim Schreiben immer ein wenig Autobiografie dabei – wie der alte Dichterfürst selber meinte), so ist es bei Lenz die relativ zerquetschte Figur des Läuffer, seines Zeichen Pastorensohn und nun selber Absolvent eines Theologiestudiums. Allerdings steht Läuffer bei weitem nicht so im Zentrum der Ereignisse wie zum Beispiel Werther oder Götz von Berlichingen.

Kleiner Einschub: Dass wir heute den damals häufig auftretenden Beruf eines Hofmeisters überhaupt noch zur Kenntnis nehmen, hat viel mit Lenz’ Drama zu tun. Im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert war es noch so, dass junge Männer, die ihr Studium abgeschlossen hatten, in Erwartung einer Stelle (meist als Pastor oder Universitätsprofessor) ihr Brot damit verdienten, in den Unterricht der Kinder von besser gestellten Familien zu übernehmen. Wikipedia, das vom Lemma Hofmeister [im Sinne von] Adelserzieher direkt auf Privatlehrer weiterleitet, begeht gleich zwei Fehler: Zum einen sind es nicht nur Adlige, die für ihre Kinder einen Hofmeister anstellten, auch gut betuchte Bürgerliche (zum Beispiel Kaufmannsfamilien in Frankfurt am Main) taten dies. Das war zur Goethezeit reine Notwehr – die öffentlichen Schulen, so überhaupt eine in der Gegend existierte, waren von miserabler Qualität: 40 und mehr Kinder in einen engen Raum gepfercht, unterrichtet von einem meist wenig motivierten und gar nicht qualifizierten Lehrer, die meist gerade mal ein bisschen Lesen, Schreiben und Rechnen lernten, oft nicht einmal Schreiben. Wer seine Kinder mehr lernen sehen wollte, war geradezu gezwungen, auf einen Hausmeister zurückzugreifen. Einige davon kamen nur für bestimmte Stunden ins Haus, andere aber wohnten dort und hatten täglich Unterricht zu geben. Das bedeutete dann – und das ist die zweite Unterlassungssünde im Wikipedia-Artikel, der nur die modernen Verhältnisse schildert – ein kleines Zimmerchen irgendwo unterm Dach, zusammen mit den übrigen Domestiken, zu denen der Hofmeister von seinem Herrn üblicherweise auch gezählt wurde. Was die Situation als Lehrer und Erzieher wiederum praktisch unmöglich machte, da die Kinder genau wussten, dass der Hofmeister auf derselben Stufe stand wie der Kutscher oder das Personal, das am Tisch servierte und dem Befehle zu geben schon die Kleinen gewohnt waren. Weder hatten diese Hofmeister das Geld noch die Möglichkeit zu heiraten. Die sexuellen Nöte der jungen Männer kann man sich vielleicht vorstellen – jedenfalls ist es kein Wunder, dass der eine oder andere sich in seine Arbeitgeberin verguckte oder in eine seiner Schülerinnen, wenn die denn alt genug waren. Dennoch waren die meisten großen Namen der Goethezeit, zumindest in Deutschland, zu Beginn ihrer Karriere irgendwann einmal Hofmeister gewesen: Kant wie Hegel, Fichte wie Schelling oder Hölderlin. Einzig Schiller, der allerdings Medizin studiert hatte und Militärarzt wurde (eine auf ihre Art auch nicht bessere Anstellung als die eines Hofmeisters) und Goethe gingen einen anderen Weg. (Goethe war nicht Hofmeister; er hatte in seiner Kindheit welche gehabt …)

Sich in seine Arbeitgeberin zu verlieben geschah in der Realität Hölderlin, von dem Lenz aber wohl nichts wusste. Sein Läuffer verliebt sich in seine Schülerin. Es kommt, wie es kommen muss: Sie wird schwanger. Läuffer muss fliehen, auch die junge Frau rennt weg und bringt ihr Kind in der Fremde zu Welt. Er kommt bei einem Schulmeister namens Wenzeslaus unter – der vielleicht am schönsten gezeichneten Figur des Stücks. Ein Sonderling, der alleine lebt, am Morgen schulmeistert und Sonntags auch predigt, sich zu seinem Schutz auf die starken Arme seiner Bauern verlässt und so auch den Adligen trotzt. Läuffer wird dennoch gefunden und angeschossen. Wieder gesund (denn das Stück geht sehr frei mit der verstrichenen Zeit um), beschließt er, das Grundübel seiner Existenz auszuschalten und kastriert sich. Wenzeslaus, der das nicht verstehen kann (er scheint sich selber durch ununterbrochenes Rauchen seiner Pfeife zu betäuben), sieht im Folgenden dann aber Hoffnung darin, dass Läuffer nun Muße hätte, der Theologie zu frönen und ein zweiter Origenes zu werden.

Im fünften Akt aber überschlagen sich die Ereignisse. Schon vorher hat Lenz zu gleichen Teilen neben der Geschichte Läuffers auch noch die zweier Studenten erzählt, Tunichtgute, die ihr Geld verschleudern, Schulden machen, um noch mehr Geld verschleudern zu können und ihre besten Freunde als Bürgen in den Schuldturm kommen lassen. Da gewinnt nun plötzlich einer im Lotto, und alle reformieren sich. Läuffer verguckt sich trotz Kastration in eine junge Bauerntochter, die ihn dann auch sogar heiraten will. Denn sie will gar keine Kinder, sie sagt: Mein Vater hat Enten und Hühner genug, die ich alle Tage füttern muß, wenn ich noch Kinder obenein füttern müßte. Auch die davon gelaufene Adelstochter findet den Weg zurück, ihr Kind, das sie im Wald verlassen hatte, ebenso. Eine von ihrem Mann verlassene Gattin wird auch noch rasch rehabilitiert … Das sind nicht nur Anklänge an die barocken Haupt- und Staatsaktionen, die Gottsched eben noch vom Theater vertrieben zu haben glaubte – das ist vor allem in hohem Maße zynisch. Es sind lauter Zufälle, vor allem ein zufällig erworbenes Vermögen, die im Stande sind, alles, alles zu heilen. Wenn’s mit rechten Dingen zuginge – also in der Realität – würde dieser Hofmeisterjob einen Haufen unglückliche Menschen geschaffen haben.

Dieser zynische Schluss und die Tatsache, dass der Hofmeister letztlich nur einer von vielen Protagonisten in diesem Stück ist, begründen meiner Meinung nach eine nach wie vor bestehende Aktualität und Modernität des Stücks, das in seinem Aufbau im 21. Jahrhundert sicher weniger seltsam wirkt als es im 18. der Fall war. (Das Stück erschien 1774.)

Wo findet die nächste Aufführung statt?

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