Für sein Berliner Ensemble war Brecht immer auf der Suche nach Stücken, die er bearbeiten und aufführen konnte. Was lag da näher, als sich im Sturm und Drang umzuschauen, der notorisch Individuen zeigte, die sich auf die eine oder andere Art „gegen das System“ auflehnten und so bei wenig Überarbeitung als sozialistische Helden avant la lettre stilisiert werden konnten? Zumal Anfang der 1950er die offizielle DDR gerade versuchte, die deutschen Klassiker (im weitesten Sinn) für sich zugänglich zu machen und so viele davon wie möglich mindestens als proto-sozialistisch oder -kommunistisch zu deklarieren. Der Hofmeister Läuffer des J. M. R. Lenz, der vom herrschenden Adel so weit getrieben wird, dass er sich in seiner Not und seiner Wut selber kastriert, müsste dafür geradezu prädestiniert sein. Dachte ich.
Brecht aber hat in seiner Bearbeitung keineswegs den Weg gewählt, Läuffer zu einem Klassenkämpfer oder Opfer des Klassenkampfes zu machen. Im Gegenteil. In einem Prolog lässt er Läuffer vor den Vorhang treten und seine (Brechts) Absicht dem Publikum erklären. (Brecht in seiner Humorlosigkeit konnte nicht nur nichts anfangen mit dem zynischen Klamauk des Pseudo-Happy Ending, das Lenz seinem Stück angedeihen ließ. Er musste auch jederzeit sicherstellen, dass man seine Werke genau so verstand, wie er sie gemeint hatte, und verfasste deshalb solche didaktischen Vor- und Nachworte.) Sein Läuffer also erklärt den Zuschauenden Folgendes:
Geehrtes Publikum, unser heutiges Stück Wurd verfasst einhunderfünfzig Jahre zurück. Drin trete aus der Vergangenheit Tor Ich, des deutschen Schulmeisters Urahn, hervor. […] Der Bürger wird jetzt mächtig im Staat Und ich bedenk schon früh und spät Daß ich in seine Dienste tret. […] Der Adel hat mich gut trainiert Zurechtgestutzt und exerziert Daß ich nur lehre was genehm Da wird sich nichts ändern in dem. Wills euch verraten was ich lehre: Das Abc der Teutschen Misere.
Nicht genug damit: In einem Epilog lässt Brecht den Schauspieler des Läuffer als Schauspieler des Läuffer auftreten und seine (Brechts) Botschaft noch einmal dem Publikum einhämmern . Ich lasse den Anfang hier weg; im Folgenden spricht Brecht vom Schulmeister an und für sich:
Gebrochen ist sein Rückgrat. Seine Pflicht Ist, daß er nun das seiner Schüler bricht. Der deutsche Schulmeister, erinnert ihn nur: Erzeugnis und Erzeuger der Unnatur!
Um dann mit dem Aufruf zu schließen:
Schüler und Lehrer einer neuen Zeit Betrachtet seine Knechtseligkeit Damit ihr euch davon befreit!
Letzteres war wohl sehr optimistisch von Brecht. Ich gebe zu, dass das Schulwesen der Weimarer Republik sich sehr rasch und im Großen und Ganzen ohne nennenswerte Probleme zum Nazi-Gedankengut bekehren ließ. Allerdings erfolgte die Bekehrung zum Sozialismus ebenso rasch und problemlos. (Wie überhaupt viele, die gerade noch stramme Nazis gewesen waren, sich über Nacht in der DDR als stramme Sozialisten wiederfanden, bzw. als stramme, teilweise katholische Demokraten in der BRD.)
Um zu seiner Pointe zu kommen, muss Brecht aber nicht nur Lenz’ Stück vergewaltigen sondern auch sozialgeschichtliche Realität. Der Hofmeister des 18. und 19. Jahrhunderts – und deswegen ärgere ich mich auch so über Wikipedia, das vom Lemma ‚Hofmeister‘ direkt weiterleitet zu ‚Privatlehrer‘ und damit indirekt genau den gleichen Fehler begeht wie Brecht – war kein Lehrer. Brecht suggeriert am Ende des Stücks, dass Läuffer nach seiner Selbstkastration, weil nunmehr harmlos für die jungen Fräuleins von Adel, als Hofmeister Karriere machen könne. Aber das Hofmeisteramt war zur Zeit Läuffers (bzw. Lenz’) kein Karriereschritt sondern im Normalfall ein Zwischenhalt bis man eine Stelle als Pastor oder an einer Universität erhalten hatte. (Einige blieben zugegeben in dieser Position stecken.) Der Lehrer der Goethe-Zeit war meist ein Klein- bzw. Ackerbürger, der halbtags einer Horde Bauernjungs und -mädels das Alphabet und die Grundrechenarten beibrachte – ohne selber viel mehr zu wissen, als er lehrte, geschweige denn eine pädagogische Ausbildung erhalten zu haben. Sich aus dieser Position des Lehrers herauszuwickeln, war nicht ganz einfach. Nicht umsonst wurde einer, dem es gelang – nämlich Jung-Stilling – mit seiner Autobiografie schon zu Lebzeiten berühmt.
Zusätzlich zur Vergewaltigung der Sozialgeschichte, widerspricht Brecht in der ‚Moral von der Geschicht‘ seinem eigenen Stück: Die einzige darin vorkommende Person nämlich, die sich gegen die Willkür des Adels zur Wehr setzt, ist – wie schon bei Lenz – Wenzeslaus, der Schulmeister. Wie das zur Aussage des Epilogs passen soll, ist wohl Brechts Geheimnis geblieben.
Alles in allem nichts, das man kennen müsste, so man sich nicht auf Brecht oder Lenz zu spezialisieren gedenkt.