Thomas Mann: Der Zauberberg

Zeichnung schwarz auf hell- und dunkelgelbem Hintergrund: Umgeben von den schwarzen Schatten der Tannen steht ein Haus (Sanatorium). Im gewählten Bildausschnitt aus dem Buchdeckel sieht man das Dach und einige Fenstergiebel.

100 Jahre werden es dieses Jahr (2024) seit der ersten Veröffentlichung des Romans Der Zauberberg. Der Text polarisierte schon früh. Das lag zunächst einmal daran, dass Thomas Mann in verschiedenen Gestalten des Zauberberg Freunde, Bekannte oder einfach nur Prominente karikierte, was nicht alle Betroffenen schätzten. Der Oberarzt des Sanatoriums, in dem praktisch der ganze Roman spielt, Hofrat Behrens, war dem Leiter der Klinik nachgebildet, in der Thomas Manns Frau Katia 1912 einige Wochen verbracht hatte. Dieser äußerst geschäftstüchtige Mediziner hatte damals versucht, Thomas Mann zu einem längeren Aufenthalt zu überreden. Was dem echten Klinikleiter nicht gelang, gelingt im Roman Hofrat Behrens mit Hans Castorp. Allerdings war das Original von seiner Darstellung wenig erfreut und überlegte sich eine Zeitlang ein juristisches Vorgehen. Ebenfalls wenig erbaut war Gerhart Hauptmann, der sich sofort in den abgebrochenen, bedeutungsschwanger klingenden, aber im Grunde genommen nichts aussagenden Sätzen des Mynheer Peeperkorn wieder erkannte und sich beim gemeinsamen Verleger Samuel Fischer beklagte. Der Verkehrsverein der Gemeinde Davos schließlich befand, dass der Roman ihr Geschäftsmodell eines Höhenkurorts für Lungenkranke geschädigt hatte und bestellte – allerdings erst 1936 – bei Erich Kästner einen heiteren Roman über Davos, als Gegengift sozusagen. Der Zauberlehrling (so der Titel) blieb aber Fragment.

(Ob sich Bruder Heinrich in Settembrini, dem Zivilisationsliteraten – so nennt ihn Naphta einmal, einen Begriff verwendend, den Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen verwendet und dabei keineswegs positiv gemeint hatte, Settembrini nennt sich lieber Humanist, gibt offen zu, Freimaurer zu sein und schreibt in echt aufklärerischer Manier für eine Enzyklopädie – ob sich Heinrich Mann also wieder erkannt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Offenbar zu Thomas Manns Überraschung hingegen erkannte sich Georg Lukács nicht in Naphta, dem zum katholischen Glauben, ja zum Orden der Jesuiten konvertierten Juden und Kasuistiker.)

Ganz andere Kritik kam von der links orientierten Literaturkritik, die – im Gefolge von Brecht und dann der Gruppe 47 – den Roman als „großbürgerlich“ diffamierte. Die Bezeichnung stimmt natürlich: Sämtliche Handelnden, mit Ausnahme des Personals des Sanatoriums und Settembrinis sowie Naphtas, stammen offensichtlich aus dem Großbürgertum und können sich ohne Probleme jahrelange Aufenthalte mit völligem Nichts-Tun in Davos leisten. Anders als in den Buddenbrooks lässt Thomas Mann dieses Großbürgertum auch nicht vor den Augen des Publikums kollabieren – jedenfalls nicht so offensichtlich wie in seinem früheren Roman. In der Ankündigung seines Literaturnobelpreises durfte denn auch Der Zauberberg nicht figurieren, weil gewisse Jury-Mitglieder dagegen Bedenken äußerten.

Es gibt natürlich noch andere Kritikpunkte. Da ist einmal der Umstand, dass man es dem Roman anmerkt, dass er ursprünglich nur „eine Art von humoristischem, auch groteskem Gegenstück“, ein „Satyrspiel“ zum 1912 erschienenen Tod in Venedig werden sollte. Sein Aufbau ist oft von Zufälligkeiten beherrscht, sein Handlungsort – völlig untypisch für einen Gesellschaftsroman, überhaupt für einen Roman – ein einziges kleines Sanatorium im kleinen Davos. Dann ist Thomas Mann auch ein bisschen allzu großzügig in der Verwendung diverser Symbolik. Sprechende Namen werden ad nauseam verwendet: Da ist der Vetter des Protagonisten Hans Castorp, Joachim Ziemßen noch harmlos, der nur tut, was sich ziemt (bis er dann im Gefolge Castorps über die Stränge schlägt); Clawdia Chauchat, die erotische Frau par excellence und Castorps Liebesziel, kann auf Französisch als ‚heiße Katze‘ gelesen werden (der Assistenzarzt des Sanatoriums nennt sie Castorp gegenüber auch ein Kätzchen – Thomas Mann winkt des öfteren sehr explizit mit Zaunpfählen in diesem Roman); last but not least muss Frau Stöhr erwähnt werden – die Frau, die (Castorp) stört und die 28 Rezepte für Fischsaucen kennt, solche Wortspielereien würde man selbst einem Gymnasiasten nicht mehr durchlassen, so infantil sind sie (ebenso wie die Frau Stöhr angedichteten Verwechslungen von Fremdwörtern, nebenbei gesagt).

Auch die Zahl 7 wird den Lesenden so richtig aufs Auge gedrückt. 7 Minuten müssen die Patienten und Patientinnen mehrmals täglich am Fieberthermometer lutschen; Settembrini trägt die 7 im Namen; als Castorp bei einer spiritistischen Sitzung fragt, wie lange er sich im Sanatorium aufhalten werde, antwortet das Medium mit „Quere Zimmernummer“ – Castorp bewohnt Zimmer 34, und die Quersumme davon ist tatsächlich 7; usw. usw. Man kann das als Leitmotiv betrachten, aber es ist sehr plump gehandhabt.

Aber natürlich hat der Roman auch seine guten Teile. Die Diskussion des Erzählers über das Wesen der Zeit ist wohl legendär. Immer wieder denkt dieser darüber nach, wie die Erzählzeit im Verhältnis zur erzählten Zeit steht, welch letztere sich zusehends beschleunigt: Die ersten drei Wochen Castorps im Sanatorium werden in extenso geschildert – zum Schluss ziehen in wenigen Sätzen gleich ganze Jahre vorbei. Das andere wichtige Thema des Romans, der Tod, will mir dagegen nicht speziell ansprechend behandelt erscheinen.

Vor allem aber werden schon gleich zu Beginn, mit den ersten paar Sätzen, die Lesenden von Thomas Manns Sprache nachgerade in die Ereignisse eingesaugt – auch wenn hier noch keineswegs das Sanatorium geschildert wird sondern Hans Castorps Kindheit und Jugend in Hamburg. Der so genannte Schneetraum Hans Castorps, als er sich beim Skifahren in einem Schneesturm verirrt und fast erfriert, ist ein glänzendes Stück surrealistischer Literatur. Last but not least ist da der ganz grobe Faden, der den Roman durchzieht: die Parodie eines Bildungsromans.

Castorp nämlich kommt ziemlich unbeleckt in Davos an. Er hat ein paar Jahre Schiffsbau studiert, aber noch nicht einmal Praxiserfahrung. In Davos wird sich nicht nur Settembrini (und später Naphta) in pädagogischer Manier um ihn kümmern – er beginnt auch selber, sich gewisse Dinge anzueignen. Da ist die Diskussion mit dem Chefarzt über das Zigarren-Rauchen im Allgemeinen, seine Maria Mancini im Besonderen (die Marke existiert tatsächlich) erst der Anfang – auch wenn uns ein zigarrenrauchender Arzt heute seltsam erscheint. (Man isst und trinkt im Sanatorium auch tapfer. Castorp, dem von Kindesbeinen an zum Frühstück ein Glas Portwein gereicht wurde, weil man glaubte, dass dies die Blutproduktion anrege, kriegt in Davos – weil vor Ort kein Portwein vorhanden ist – eine Flasche Köstritzer Schwarzbier – auch diese Brauerei existiert heute noch, sie gehört aber unterdessen einem Weltkonzern.) Zwar der Psychoanalyse – hier durch den Assistenzarzt vertreten – geht er aus dem Weg. Aber er übernimmt aus dessen Vorträgen ein kurzzeitiges Interesse an der Physiologie und der Botanik. Er fängt ein eigenes Herbarium an – womit er sich in die Tradition der Universalgelehrten des ausgehenden 18. Jahrhunderts stellt: Alexander von Humboldt, Goethe, Chamisso. Mit dem Chefarzt hingegen plaudert er über die Malerei. (Wobei sein Interesse vor allem ein Porträt seiner heimlichen Geliebten ist, das der Arzt gemalt hat. Auch die Physiologie wird ihn vor allem interessieren, weil er ein Röntgenbild von seiner Chauchat erhalten hat – die sexuellen Spannungen müssen riesig gewesen sein in so einem Sanatorium, auch wenn Thomas Mann hier nur wenig berichtet.) Später ist es dann die Astronomie, die Castorp kurzzeitig interessiert, bevor er sich ganz am Ende seines Aufenthalts der Musik zuwendet.

Die ganze Bildung aber ist für die Katze. Nicht für Clawdia Chauchat – die bleibt für Castorp unerreichbar. Aber Castorps universale Ausbildung entpuppt sich ganz einfach als sinnlos. Nach sieben Jahren Aufenthalt bricht der Zauberberg mit einem Donnerschlag auf (so, wie der sagenhafte Venusberg) und Castorp muss ihn verlassen. Es ist 1914, und wir sehen unseren Helden noch als Infanteristen bei einem Sturmangriff im Feld. Seine Überlebenschancen in diesem Krieg werden vom Erzähler offenbar als gering eingeschätzt, aber hier endet der Roman.

Nicht Thomas Manns bester Roman, wie ich finde. Aber auch ein weniger guter Roman Thomas Manns ist immer noch ein guter Roman.

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